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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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des
Leidens; das Ende kam näher, für einen Augenblick würde ich mich noch zu Licht
und Freude aufschwingen, noch einmal würde ich die Musik hören, und dann käme
das Ende, so oder so.
    Â»Rufen Sie niemanden«, sagte ich heiser. »Ich habe keine Schmerzen.
Schlafen will ich, verstehen Sie nicht?«
    Ich nahm ihre Hand mit der bettelnden, um Almosen heischenden
Bewegung, wie wirklich nur die betteln können, die sich dem Opium und der
Leidenschaft verschrieben haben. Für einen Augenblick hielt ich diese kalte,
knochige Hand in meiner; sie duldete die Berührung, dann zog sie mir mit einer
langsamen Bewegung die Finger weg.
    Â»Aber Maestro, das ist unmöglich«, sagte sie mit ehrlichem Protest
und entsetztem Erschrecken. »Sie wissen genau, dass wir ohne Erlaubnis des
Herrn Professors keine Spritzen geben dürfen. Und noch dazu diese Spritze. Und
Ihnen, der Sie geheilt sind, der nicht mehr leidet, dem nichts wehtut!«
    Sie protestierte wie eine Frau, die in den Nachtstunden zu einem
unmoralischen Abenteuer eingeladen wird. Und ich versuchte so fieberhaft, sie
zu diesem Abenteuer zu überreden, wie ein Verführer eine zögerliche Geliebte
drängen mag.
    Â»Der Professor erfährt nichts. Und ich reise morgen ab. Aber jetzt,
einmal noch, möchte ich schlafen, möchte ich die Spritze. Ich möchte sehr tief
schlafen. Das ist doch wohl keine Sünde?«
    Charissima war sehr ernst.
    Â»Sie wissen nicht, was Sie verlangen, Maestro«, sagte sie leise.
»Wenn ich das tue, ist es Sünde.«
    Mit einer schützenden Bewegung verschränkte sie die Hände auf der Brust
und faltete sie, als ob sie betete. So stand sie da, in abweisender und
zugleich betender Körperhaltung. Ich schloss die Augen, weil ich müde war, von
dem Gespräch, von der späten Nachtstunde, von allem, was in der Vergangenheit
war und was mich in der Zukunft erwartete, von dieser Diskussion, müde war ich
wie nur in Augenblicken, wenn wir endlich ans Ende von allem gelangt sind und
von der Diskussion mit den Menschen genug haben.
    Â»Na und?«, sagte ich gleichgültig. »Und wenn es Sünde ist? Ist Ihnen
das nicht gleich?«
    Ich hatte das Wort kaum ausgesprochen, als ich zur Besinnung kam;
ich hatte eine Sterbende darauf hingewiesen, dass sie tun konnte, was sie
wollte, dass Sünde und Moral nicht mehr viel zählten. Ich rechnete mit Protest,
mit aufgebrachter Zurückweisung. Aber Charissima blieb ruhig. Sie erwiderte:
»Das stimmt.« Und nach einer kurzen Pause: »Egal.« Sie bewegte sich nicht. Ihre
Hände mit den gefalteten Fingern lagen in krampfhafter Reglosigkeit noch immer
auf ihrer Brust.
    Â»Maestro, Sie reisen morgen ab. Mit dem Flugzeug nach Athen.« Lauter
sagte sie: »Wie schön muss es sein, zu fliegen.« Dann schwieg sie.
    Jetzt wagte ich auch nichts mehr zu sagen. Nachlässig,
selbstsüchtig, erbarmungslos hatte ich etwas berührt. Ich hätte schweigen
müssen, dachte ich nun. Und plötzlich hörte ich, wie Charissima heiser sagte:
»Gott ist gnädig.«
    Mechanisch sagte sie das, im Nonnenton, als murmelte sie eine
Litanei.
    Ich sah zu ihr auf. Sie stand reglos da, mit verschränkten Armen,
und starrte vor sich hin.
    Â»Was sagen Sie?«, fragte ich. »Was wollen Sie?«
    Meine Müdigkeit war so tief, auch ich redete wirr. Charissima sah
mich nicht an. Noch einmal sagte sie, nun schon lauter: »Gott ist gnädig.«
    Und ich sah, wie sie die Hand an die Brust presste. Meine Worte
schien sie nicht zu hören. Und plötzlich, beinahe schreiend, als riefe sie in
letzter Bedrängnis um Hilfe: »Gott ist gnädig.«
    Ihre Worte hallten erschreckend im Zimmer, in der Nacht, in der
Stille. Sie setzte sich in Bewegung, mit so raschen Schritten, als ob sie
liefe. Sie ging aus dem Zimmer und ließ die Tür offen stehen.
    Nach wenigen Augenblicken kam sie zurück. Mit sicheren,
entschlossenen Schritten eilte sie an mein Bett, in der Hand die Spritze. Im
Gläschen erkannte ich die Opalfarbe des Mittels. Sie krempelte mir am rechten
Arm den Ärmel des Pyjamas hoch, mit einer geübten und entschlossenen Bewegung
stach sie die Nadel unter die Haut. Mechanisch rieb sie die Hautoberfläche an
der Einstichstelle mit Watte ab. Sie sagte kein einziges Wort und sah mich
nicht an. Dann löschte sie das Licht; ich hörte noch, wie sie mit der lautlosen
Bewegung von Menschen, die an
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