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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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passte nicht zu Ihnen. Sie sind ein Musiker, ein echter Musiker,
und es gibt noch so wenig Echte in jeder Hinsicht. Auch echte Ärzte sind
selten.« Er biss sich auf dem Fingernagel herum. Dann kam er zur Besinnung,
steckte die Hand in die Tasche und sagte: »Pardon.« Und später: »Diese Dame ist
mitteilsam. Sie hat sich ehrlich um Sie gesorgt. Man sorgt sich nur so ehrlich
um Menschen, für die man verantwortlich ist. Ich habe auch mit ihrem Mann
gesprochen. Die beiden sind großartige Menschen. Menschen von Welt, sie haben
alles gesehen und alles von oben gesehen. Aber ich, sehen Sie, lebe unter
Kranken, Bettschüsseln und Auswürfen, und ich habe nicht die Möglichkeit, von
oben zu sehen, was oder wer wichtig ist. Sie sind wichtig. Deshalb kann ich nur
wiederholen, was ich vorhin sagte. Sie können gesund werden. In einigen Tagen
werden Sie hier weggehen. Aber gehen Sie nicht zu dieser Frau zurück.« Er stand
auf, als käme er zur Besinnung, und verneigte sich verlegen mit einer
entschuldigenden Bewegung. »Pardon«, sagte er noch einmal. »Zu dieser Dame.«
Und er wollte gehen.
    Â»Warten Sie«, sagte ich. »Was können Sie darüber wissen, was mir
diese Frau bedeutet?«
    Â»Die Krankheit«, sagte er schlicht.
    Â»Und vielleicht die Heilung«, sagte ich. »Daran denken Sie nicht?«
    Dies war ein Gespräch, wie man es im Leben nur selten führt.
Jenseits der Grenzen von Manieren und gesellschaftlichen Übereinkünften,
irgendwo am Rand des Abgrunds. Dieser ungepflegte Mann mit dem schlechten
Benehmen wirkte auf mich immer so, als lebte er außerhalb des Gesetzes,
außerhalb der gesellschaftlichen Gesetze, weit von allem, was Vereinbarung ist,
aber nah an allem Menschlichen. Der Professor dagegen hatte niemals jene feine
Grenze überschritten, innerhalb derer die Regeln noch gelten; hier, auf der
Schwelle war er stehen geblieben und hatte mit höflichem Lächeln beobachtet und
abgewartet. Aber der Schamane, wie sich dieser sonderbare Bekannte genannt
hatte, kannte dieses wohltuend gleichmütige Verhalten nicht.
    Â»Das ist die homöopathische Heilmethode«, sagte er ernst. »Ich
empfehle sie nicht. Die Krankheit mit der Krankheit heilen. Für diese
Auffassung gibt es eine berühmte Schule. Ich glaube nicht daran.«
    Er wollte gehen. Ich hob die Hand.
    Â»Wenn Sie schon reden«, sagte ich, »sprechen Sie ernsthaft. Warum
glauben Sie, dass diese Beziehung meiner Heilung schaden kann?«
    Wieder zuckte er mit den Schultern.
    Â»Sie dürfen nicht zurückgehen, Maestro«, sagte er leise und etwas
heiser. »Ich habe diese Erfahrung gemacht. Sie sind von dieser Beziehung
weggegangen, in die Krankheit sind Sie gegangen. Sie dürfen sich nicht
zurückwenden. Das ist alles, was ich sagen kann.«
    Er richtete sich auf und sagte höflich, beinahe wie ein Mann von
Welt: »Verzeihen Sie, wenn ich taktlos war.«
    Mit einer Verbeugung verabschiedete er sich. So hatte ich ihn noch
nie gesehen.
    Auch der Professor war der Ansicht, dass ich am Ende der Woche
gehen könne.
    Alles schien leicht wie im Märchen, die ersten Bewegungen, das erste
Aufstehen. Im Zimmer umherzugehen, dann auf dem überdachten Glasflur unter
Lorbeerbäumen. Beim ersten Spaziergang begleitete mich noch Cherubina,
untergehakt und lächelnd gingen wir auf und ab, stolz im Vorfrühlingslicht.
»Wie Verliebte«, sagte der Unterarzt mit spöttischer Verneigung, als er uns
beim Spaziergang traf. Und Cherubina lächelte glücklich. Alle lächelten in
diesen Tagen. Und jeden Abend läutete das Telefon. »Athen ist am Apparat«,
sagte eine freundliche Stimme aus der Zentrale von Florenz.
    Wir kannten einander schon, die Zentralen von Athen und Florenz und
ich, im Krankenbett, gegen Mitternacht. Athen ermunterte mich auf Französisch,
mit persönlicher Vertraulichkeit, die Dame »sei sofort da«, man läutete schon
auf der geheimen Nummer. Und die Zentrale von Florenz übermittelte mit
melodischer Bereitwilligkeit wie ein mitternächtlicher italienischer Kuppler in
vertraulichem Tonfall die wohlbekannte Stimme in mein Zimmer: » Ecco, hier ist das Stelldichein, mein Herr!« Eine Woche
lang sprach E.s Stimme jede Nacht zwischen Mitternacht und ein Uhr in meinem
Zimmer. Die Stimme war ungeduldig und beglückend nah. Niemand konnte durchs
Telefon so intim, vertraut, ja, so gefühlvoll sein wie E.
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