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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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sein Werk aufmerksam verfolgte. Dann – aber das
verstand ich erst jetzt, am Abend vor der vierten Kriegsweihnacht – lag eine
sonderbare, dichte Stille über Z.s Namen. Als hätte man plötzlich im Lärmen der
Welt einen Schalldämpfer auf den Sturm der Begeisterung gedrückt, mit dem
bislang jede Äußerung dieser Persönlichkeit aufgenommen worden war. Aber dieses
Verstummen, diese unerwartete Stille war so zurückhaltend, so verschämt, dass
ich ihr Geheimnis nicht zu ergründen vermochte. Z. war nicht »durchgefallen«,
nicht von seinen Gegnern mit irgendwelchen erlogenen oder berechtigten
Beschuldigungen niedergestochen worden. Er war nur eben von den ungarischen und
internationalen Konzertbühnen verschwunden, Jahre vergingen, ohne dass sein
Name zu hören oder zu lesen war. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich in
diesen Jahren etwas über ein im Entstehen befindliches, größeres Werk gehört
hatte; ich rätselte, ob es möglich wäre, dass der Grund für dieses tiefe
Schweigen eine Art größerer Anstrengung sei – vielleicht erlebte der große
Künstler jetzt Jahre des Kräftesammelns und der stillen Arbeit? –, aber ein
Gefühl, das ich nicht erklären konnte, flüsterte mir unmissverständlich zu,
dass ich auf der falschen Fährte war. Z.s Schweigen, sein taktvolles und
selbstbewusstes Verschwinden musste einen anderen Grund gehabt haben – und
diesen Verdacht empfand ich jetzt, nach so vielen Jahren, als wir uns hier auf
dem Berg begegneten, als wahr. Sein Schweigen, ja sein Verschwinden war nicht
vom Rauschen des Trauerorchesters der öffentlichen Meinung begleitet – ich
hatte niemals gelesen, dass der große Künstler »sich zurückgezogen« habe, und
ich erinnerte mich auch nicht an schadenfroh bedauernde Nachrichten über die
»Müdigkeit« des berühmten Musikers, mit anderen Worten darüber, dass sein
Talent versiegt war, dass keine weiteren Werke, musikalische Erlebnisse von ihm
zu erhoffen waren. Nach allem, was ich wusste – ich musste die Erinnerungen
jetzt aus den Bruchstücken winziger, verblasster Meldungen zusammensetzen –,
war Z. auch heute noch Professor an der Musikhochschule, wohin man ihn in den
schönsten Augenblicken seines Ruhms berufen hatte, ich erinnerte mich, dass er
junge Künstler unterrichtete. Aber seit Jahren hatte die Welt kein einziges
Konzert dieses wunderbaren Musikers mehr gehört, und auch unter den Händen
anderer Künstler waren keine neuen Melodien des Komponisten Z. erklungen.
    Sicher war nur, dass er schwieg und – wie das Gastwirtpaar sagte –
»Musik nicht mochte«, und bald musste ich erfahren, dass der brave Volksglaube
mit dieser Vermutung eigentümlicherweise recht hatte. Z. hatte, auf seine
einfache und stille Weise, in dem Gebirgsgasthaus nur gegen die schlichte Musik
aus dem Radio protestiert, gegen die Tanzmusik, die modischen großstädtischen
Liedchen, von deren Gedudel die Mehrheit der Gäste nicht genug bekommen konnte.
Sein Protest war tolerant und konsequent. Wann immer einer der Gäste in seinem
Hunger nach billiger Musik das Radio einschaltete, stand Z. von seinem Platz
auf und verließ uns ohne Aufsehen. Auch sonst hielt er sich selten und nur für
kurze Zeit im Gesellschaftsraum auf. Meist blieb er auf seinem Zimmer – auch an
diesem Abend, als wir anderen den Weihnachtsbaum schmückten. Offenbar störte
ihn die grobe Ausstattung des Zimmerchens nicht, das einfacher und unbequemer
war als eine Klosterzelle, und er war lieber allein als unter den »Musik
liebenden« Menschen. Am häufigsten trafen wir ihn beim Mittagessen; er grüßte
alle wortlos mit einem freundlichen Lächeln, setzte sich an den Fenstertisch
mit der blau gestreiften Decke aus Bauernleinen, der für eine Person gedeckt
war, und vertiefte sich in das mitgebrachte Buch. Nach dem Essen verabschiedete
er sich mit einem freundlichen, unpersönlichen Lächeln von den Anwesenden und
verließ mit ruhigen Schritten den Raum. Er ging in sein Zimmer oder zog sich
die Lederjacke an und trat hinaus auf die Promenade der vom Schneeregen
durchweichten Landschaft und kehrte längere Zeit nicht zurück. Ihn störte hier
offensichtlich nichts, weder die Menschen noch das Wetter, noch die grobe
Einfachheit des Gebäudes. Menschen, besonders Menschen vom Schlage Z.s – hatten
wir uns
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