Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
1
    Ein ganz gewöhnlicher Weltuntergangsprophet mit zwei Reklametafeln auf den Schultern verließ plötzlich mit schnellen Schritten den Platz am Eingang des Museums, auf dem er mehrere Tage lang gestanden hatte. Die vordere Tafel zeigte eine traditionelle Prophezeiung des Weltenendes; auf dem Schild auf seinem Rücken war zu lesen: VERGESST ES.
    Im Museum ging ein Mann durch eine große Halle, vorbei an einer Freitreppe und einem riesigen Skelett. Laut hallten seine Schritte auf dem Marmorboden. Steinerne Tiere beobachteten ihn. »Also gut«, sagte er immer wieder.
    Sein Name war Billy Harrow. Er betrachtete die großen künstlichen Knochen und nickte. Es sah aus, als würde er sie begrüßen. Es war kurz nach elf Uhr an einem Vormittag im Oktober. Der Raum füllte sich allmählich. Am Eingangsschalter wartete eine Gruppe von Leuten, die einander mit höflicher Befangenheit musterten.
    Da waren zwei Männer in den Zwanzigern mit Geek-Chic-Frisuren. Eine Frau und ein junger Mann von kaum zwanzig Jahren neckten einander. Sie wollte ihm offensichtlich mit diesem Besuch eine Freude machen. Auch ein älteres Ehepaar gehörte zu der Gruppe, und ein Vater in den Dreißigern mit seinem kleinen Sohn an der Hand. »Sieh mal, das ist ein Affe«, sagte er soeben. Er deutete auf eingravierte Tiere, die sich um die Säulen des Museums rankten. »Und siehst du diese Echse?«
    Der Junge schaute sich verstohlen um. Er blickte auf den Knochenapatosaurus, den Billy anscheinend begrüßt hatte. Oder vielleicht, dachte Billy, sah er auch den Glyptodon dahinter. Alle Kinder hatten im ersten Saal des Naturhistorischen Museums einen Lieblingsbewohner, und der Glyptodon, dieses halbkugelförmige Riesengürteltier, war schon immer Billys Liebling gewesen.
    Billy lächelte die Frau am Eintrittskartenverkauf und den Wachmann hinter ihr an. »Sind sie das?«, fragte er. »Okay, Leute. Sollen wir starten?«
    Er putzte seine Brille und blinzelte dabei - eine Geste, die ihn, wie eine Ex-Freundin ihm einmal gestanden hatte, ungemein liebenswert erscheinen ließ. Mit seinen knapp dreißig Jahren sah er deutlich jünger aus: Er hatte Sommersprossen und noch nicht genug Bartwuchs, um die Anrede »Bill« zu rechtfertigen. Billy vermutete, dass er mit zunehmendem Alter ähnlich wie Leonardo DiCaprio das Aussehen eines ältlichen Jugendlichen annehmen würde.
    Sein schwarzes Haar war auf eine halbherzig modische Art und Weise zerzaust. Bekleidet war er mit einem nicht allzu spießigen Shirt und billigen Jeans. Als er seine Stellung im Darwin Centre angetreten hatte, hatte er sich als für einen solchen Job unerwartet cool aussehend empfunden. Mittlerweile war ihm jedoch klar, dass er damit niemanden verblüffte und dass niemand mehr erwartete, dass Wissenschaftler auch aussahen wie Wissenschaftler.
    »Sie alle haben sich also zu einem Rundgang durch das Darwin Centre eingefunden«, sagte er. Er tat so, als glaubte er, dass sie sich über neue Forschungsergebnisse informieren und ausgiebig die Labors und Büros besichtigen wollten, die Archive und die Bibliothek mit ihren Schränken voller unzähliger Schriftstücke. Tatsächlich aber interessierten die Besucher sich nur für ein einziges Exponat in diesem Gebäude.
    »Ich bin Billy«, fuhr er fort. »Ich bin ein Kurator. Das bedeutet, dass ich im Wesentlichen mit Katalogisierung und Erhaltung und dergleichen befasst bin. Ich bin schon eine Weile hier. Als ich anfing, wollte ich mich auf Meeresmollusken spezialisieren - weißt du, was eine Molluske ist?«, fragte er den Jungen, der nickte und sich hinter seinem Vater versteckte. »Schnecken, das ist richtig.« Mollusken waren das Thema seiner Magisterarbeit gewesen.
    »Na schön, Leute.« Er setzte die Brille auf. »Folgen Sie mir. Dies ist ein Ort, an dem gearbeitet wird, daher seien Sie bitte so leise wie möglich. Außerdem bitte ich Sie, nichts zu berühren. Hier stehen überall Ätzmittel, giftige Substanzen und alle möglichen anderen abscheulichen Stoffe herum.«
    Einer der jungen Männer setzte zu einer Frage an. »Wann sehen wir ...?«
    Billy hob die Hand und fiel dem Besucher ins Wort. »Darf ich bitte ...?«, fragte er. »Ich will Ihnen erläutern, was dort drin geschehen wird.«
    Billy hatte mittlerweile seinen eigenen Aberglauben entwickelt, zu dem gehörte, dass es als böses Omen anzusehen war, wenn jemand vorzeitig den Namen dessen aussprach, den alle besichtigen wollten.
    »Ich werde Ihnen einige unserer Arbeitsplätze zeigen«, sagte er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher