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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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der Talbahn gemietet hatten. Auffällig waren weniger sie
selbst als ihr Gepäck. Sie führten überraschend viele Koffer und Taschen von
ausgesuchter Qualität mit sich. Die Hutschachteln der Frau und ihre mit
Etiketten ausländischer Hotels beklebten Gepäckstücke verrieten, dass sie viel
gereist und an das Leben in der großen Welt gewöhnt war, man brauchte keinen
besonderen geheimpolizeilichen Scharfblick, um zu erkennen, was nicht nur ihre
Gepäckstücke, sondern auch ihre Kleidung und ihr Benehmen bestätigten: Sie war
ein anspruchsvolles Leben gewohnt. Umso verwunderlicher war es – natürlich
kamen wir erst nachträglich darauf, uns so richtig zu wundern! –, was dieses
zerbrechliche, nicht mehr junge Geschöpf von kränklichem Aussehen mit seinen
vielen vornehmen Koffern hier oben in den Bergen suchte, im Schneeregen, in den
primitiven und unbequemen Räumen der Bergpension. Sie reisten an, als wollten
sie sich für lange Zeit auf dem Berggipfel niederlassen. Die Frau mochte
fünfzig Jahre alt sein – später entnahmen wir ihren Dokumenten, dass sie
tatsächlich im vergangenen Frühjahr fünfzig geworden war –, der Mann, kahl und
etwas beleibt, sah mit seinem traurigen und sorgenschwangeren Blick etwas älter
aus; bald darauf erfuhren wir jedoch, dass er in Wirklichkeit drei Jahre jünger
war als sie. Nach ihrer Ankunft verschwanden sie in dem Zimmer für die
auserwählten Gäste und kamen auch zu den gemeinsamen Mahlzeiten nicht herunter
in den Gesellschaftsraum; sie speisten auf ihrem Zimmer, und nur selten
erschien die Frau oder der Mann in den späten Nachmittags- oder Abendstunden,
um wortlos, abseits der anderen, mit finsterer Aufmerksamkeit die
Tagesnachrichten im Radio zu hören. Niemals kamen sie gemeinsam, aber diesen
abwechselnden Radiodienst hielten sie sorgsam ein. Es war zu sehen, dass sie
etwas beschäftigte, beunruhigte und bedrückte – vielleicht der Lauf der Welt,
vielleicht ein unbekanntes Geheimnis ihres individuellen Schicksals. Sie saßen
vor dem Radio, als warteten sie beklommen auf eine Nachricht, eine Antwort auf
eine unbekannte Frage. Und wenn der Ansager mit der Aufzählung der
Tagesnachrichten fertig war, stand die diensthabende Hälfte sogleich auf,
grüßte stumm und eilte die knarrende Holztreppe hinauf ins Zimmer des
Obergeschosses.
    Dieses Benehmen war gerade auffällig genug, dass wir anderen, die
Hausbewohner und Gäste, gründlicher auf sie achteten – und eines Abends, als
die Frau den Dienst am Radio versah, setzte sie sich neben mich auf die schmale
Holzbank, die den Ofen umgab. Solange das Radio mit maschineller
Gleichgültigkeit schreckliche Kriegsphrasen drosch – nur gelegentlich klang
durch die Stimme des unbekannten Ansagers eine blutrünstige Genugtuung durch –,
während es monoton die Zahlen der tragischen Tagesbilanz der vernichteten
Städte, gesprengten Brücken, dem Erdboden gleichgemachten Krankenhäuser,
Kirchen und Schulen, versenkten Schiffe und abgeschossenen Flugzeuge
wiederholte, hatte ich Gelegenheit, mir meine Nachbarin gründlicher anzusehen.
Sie trug ein aus vornehmem Material, und auf Kaninchenwolle, gestricktes Kleid,
Bluse und Rock waren pastellfarben und flauschig, und sie hatte sich ein sehr
feines, blassgrünes, seidenartiges Tuch aus fremdländischem Stoff um die Schultern
gelegt. Nervös rieb sie die Seidenfransen zwischen den blutlosen, knochigen
weißen Fingern, während sie Radio hörte. Ihre Opanken – mit den
schnabelförmigen Spitzen ein typisches osteuropäisches Schuhwerk – mussten beim
besten Schuster hergestellt worden sein, in den empfindlichen Friedenszeiten,
als die Städter anspruchsvoll von ihren Schustern forderten, dass man für ihre
Füße Schuhe herstelle, die weicher und feiner wären als Handschuhe. An ihrem
kleinen Finger blitzte auf dem einzigen Ring ein erbsengroßer Diamant. In dem
blonden, glatt gekämmten, in der Mitte gescheitelten Haar schimmerten weiße
Fäden. Aus dem schmalen, blassen Gesicht mit den ruhelosen Zügen, das nicht
einmal durch seine trotzig kindliche Weichheit das wahre Alter verbergen konnte,
blitzten graublaue, eisig geschnittene Augen. Diese Augen waren wie kalte
östliche Edelsteine mit bläulichem Glanz – manchmal sprühten sie Funken, doch
dann erlosch ihr Licht sofort wieder. Jede Bewegung der
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