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Die Stille zwischen den Sternen

Die Stille zwischen den Sternen

Titel: Die Stille zwischen den Sternen
Autoren: Juergen Banscherus
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★ 1 ★
    Zwei laufen durch den Wald. Ein Mädchen und ein Junge.
    »Da liegt einer«, sagt der Junge.
    Das Mädchen beachtet ihn nicht.
    »Der ist hin«, sagt der Junge.
    »Du machst mir keine Angst«, sagt das Mädchen.
    Hinter den beiden stehen die Tannen dicht an dicht. Sie schlucken die Lichter der Schnellstraße, die durch den Wald hinunter nach Schwatten führt. Über den Bäumen wächst ein Sendemast in die Nacht. Eine Leiter führt zu seiner Spitze. Die eisernen Tritte sind in die Außenhülle des Mastes einbetoniert.
    Der Junge nimmt das Mädchen an die Hand und zieht es zu dem Zaun, der die Sendeanlage umgibt. Über das stabile Metallgitter ist Stacheldraht gespannt. Das Tor im Zaun steht offen. Das ist ungewöhnlich. Tore dieser Art stehen nicht offen. Und schon gar nicht kurz vor Mitternacht.
    Auf einer freien Fläche zwischen zwei mannshohen Schlehdornbüschen liegt jemand im Gras. Die Beine sind angewinkelt, die linke Hand hat sich oberhalb des Kopfes ins Gras gekrallt, die rechte ist unter dem Körper versteckt. Das Gesicht ist nicht zu erkennen.

    »Vielleicht schläft er nur«, flüstert der Junge. »Los, wir hauen ab!«
    Am Abend hat es ein Gewitter gegeben. Überall tropft es noch von den Bäumen.
    »Wir können den doch nicht einfach liegen lassen«, sagt das Mädchen und steckt die Hände tiefer in die Hosentaschen.
    »Und wie erklären wir, was wir hier zu suchen haben?«, fragt der Junge. »Um diese Zeit?«
    »Erklären?«, fragt das Mädchen zurück.
    »Die Polizei wird Fragen stellen«, sagt der Junge.
    Das Mädchen schüttelt mechanisch den Kopf. »Wir können den doch nicht einfach hier liegen lassen«, wiederholt sie störrisch.
    Der Junge fasst das Mädchen am Arm. »Von der nächsten Telefonzelle aus rufen wir die Polizei an«, sagt er. »Sollen die sich um ihn kümmern.«
    Aber das Mädchen hört nicht hin. Da kann der Junge reden, so viel er will.
    »Er hat sich bewegt«, sagt das Mädchen.
    »Blödsinn!«
    »Und wenn er noch lebt?«
    Das Mädchen beugt sich über den Körper. Vielleicht hat sie bis zu dieser Nacht noch keinen Toten gesehen. Vielleicht hat sie Angst. Aber davon lässt sie sich nicht abhalten. Sie will helfen, ganz gleich, was sie dabei zu sehen bekommt.
    »Hilf mir, verdammt!«, fährt das Mädchen den Jungen an.
    Der hockt sich widerwillig hin.

    »Vorsichtig«, sagt das Mädchen leise.
    Sie beginnen, den Körper zu drehen. Ein blasses Jungengesicht erscheint, an der linken Schläfe klebt Blut. Das T-Shirt ist über der mageren Brust zerrissen, in der offenbar neuen Jeans klafft ein Loch.
    Das Mädchen legt sein Ohr auf die Brust des Verletzten.
    »Er lebt«, sagt sie.
    »Na wunderbar«, sagt der Junge. »Und jetzt?«
    »Er muss ins Krankenhaus. So schnell wie möglich.«
    Das Mädchen zieht sein Sweatshirt aus und schiebt es dem Verletzten behutsam unter den Kopf.
    »Sollen wir ihn etwa tragen?«, fragt der Junge.
    »Zu gefährlich«, sagt das Mädchen, ohne auf den Spott einzugehen. »Am besten läufst du zur nächsten Telefonzelle und rufst einen Krankenwagen.«
    »Und wenn die wissen wollen, was wir hier tun? Mitten in der Nacht?«, fragt der Junge.
    »Sobald wir den Rettungswagen hören, verschwinden wir«, sagt das Mädchen.

    Könnte es so gewesen sein? Oder war alles ganz anders? Wer hat die Polizei alarmiert? Und wieso ist eigentlich niemand bei dir geblieben, bis der Krankenwagen kam?
    Ich jedenfalls stelle mir vor, dass ein Junge bei der Polizei angerufen hat. Ein Junge, dem du in dieser Nacht in die Quere gekommen bist. Der etwas anderes vorhatte. Dem es überhaupt nicht in den Kram passte, sich um dich kümmern zu müssen.

    Natürlich willst du jetzt wissen, warum ich mich als dein Arzt so für die Nacht auf dem Katzenberg interessiere, warum ich genau wie du herausfinden möchte, was eigentlich passiert ist. Du erinnerst mich an jemanden. Er hatte, als er ungefähr so alt war wie du, einen schweren Unfall. Danach konnte er sich auch nicht erinnern. Die Minuten vor und nach dem Unglück waren wie weggewischt. Und da war niemand, der ihm helfen konnte.
    Er musste mit dem schwarzen Fleck in der Erinnerung leben. Das machte ihn einsam, er fühlte sich oft wie auf einer Insel. Die Leute, die mit ihm zu tun hatten, verstanden ihn nicht. Ich verstand ihn genauso wenig - wenigstens am Anfang.
    Deshalb schreibe ich dir deine Geschichte auf, versuche, mir vorzustellen, was vor ein paar Tagen im Wald geschehen ist. Versuche, dir zu helfen, einen Weg in deine
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