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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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Frau verriet die Unruhe
von Verfolgten oder Nervenkranken, die glauben, dass ihnen feindliche Mächte
auf den Fersen sind. Ihr Körper, ihre Manieren, ihre Kleidung, alles zeugte
davon, dass sie ein verwöhntes Wohlstandsgeschöpf war. Die rauen und
gefährlichen Nachrichten aus der Welt hörte sie sich gleichgültig an, in ihren
kalt leuchtenden blauen Augen blitzte erst ein Zeichen von Leben und Interesse
auf, wenn der Ansager die unbedeutenderen Nachrichten des Tages
herunterzurattern begann: die einfache, alltägliche Chronik der Unfälle,
Vermissten, Verstorbenen. Sie hob den schmalen Kopf, ihre Nasenlöcher weiteten
sich, ihre Augen funkelten, und einige Minuten lang war sie aufmerksam wie ein
wildes Tier, wenn es Gefahr oder Beute wittert. Nach den Nachrichten erhob sie
sich sofort von der Bank und nickte kurz; mit mädchenhaftem Gang ließ sie auf
der obersten Treppenstufe die schlanken Fesseln hervorblitzen und verschwand im
Dunkel des Obergeschosses.
    Das war die Frau: nicht mehr jung, offensichtlich krank. Vielleicht
hatte sie ein Lungenleiden oder suchte für ihre geschädigten Nerven hier auf
dem Gipfel des Berges Linderung, dachte ich. Natürlich konnten mich in der
elenden Gefangenschaft des Eisregens weder diese Frau noch ihr Mann übermäßig
interessieren – und am dritten Abend begann ich ernsthaft, Fluchtpläne zu
erwägen. Der Mann der fremden Frau – was sollte ich sonst von diesem kahlen,
stämmigen Mann denken, der zusammen mit dem kränklichen, älteren Geschöpf hier
war – saß nachmittags oder gegen Abend manchmal stundenlang in dem
Gemeinschaftsraum, rauchte Pfeife, wechselte mit niemandem ein Wort, wies die
wohlwollende Annäherung der Nimrods zurück und war auch nicht zum Kartenspiel
zu bewegen. Zeitung oder Bücher las er nicht, er saß nur am Radio, sah dem
Rauch seiner Zigarre hinterher und schaute düster an die aus rohen
Kiefernstämmen gezimmerte Decke. Ein Mann, der Sorgen hatte, ein älteres
bürgerliches Ehepaar, das sich hier auf den Berggipfel zurückgezogen hatte,
weil die Frau krank war und sie vielleicht hofften, billig Heilung zu erkaufen
– das war alles, was mir in ihrer Gegenwart einfiel. Mich interessierte hier
niemand. Der weihnachtliche Zauber der Berge hatte mich schändlich betrogen;
das Klügste, was ich tun konnte, war, meine Siebensachen zu packen und am
Mittag mit dem struppigen Pferdchen zur nahen Bahnstation zu zuckeln, von wo
mich ein Personenzug fortbringen würde. Fortbringen, doch wohin?
    Wir schrieben den Tag vor Heiligabend; ich sah ein, dass ich
vergeblich grollte, ich war in die Falle geraten. Wäre ich zurück in die
Hauptstadt gefahren, wäre ich mit dem Mitternachtszug genau am Heiligen Abend
in meiner Wohnung angekommen, wo mich jedoch niemand erwartet hätte. Meine
Haushälterin hatte ich in den Urlaub in ihr Dorf geschickt; bei der Familie von
Bekannten, wo ich in der Vergangenheit einige angenehme Weihnachtsabende
verbracht hatte, konnte ich unmöglich um Mitternacht mit Gepäck in der Hand
auftauchen. Und auch die Wahrscheinlichkeit anderer, kleinerer
Unannehmlichkeiten zwang mich, auszuharren. In diesem Abschnitt des Krieges fuhren
nachts keine Automobile mehr, insbesondere nicht am Weihnachtsabend, und in der
Zeitung hatte ich gelesen, dass nach acht Uhr am Abend auch die Straßenbahnen
nicht mehr verkehrten. Zu Fuß durch die frostige Nacht zu spazieren, in die
ungeheizte und leere Wohnung zu kommen, all das schien mir sinnlos. Ich musste
die Stunde der Befreiung abwarten und mich wohl oder übel damit abfinden, dass
ich den Weihnachtsabend hier in dieser klammen, rauchigen Umgebung im Geruch
von Speisen und durchgeweichten Kleidungsstücken verbringen würde, unter
wildfremden Menschen, die sich gnatzig und mit ungeschickten Scherzen die
Langeweile des Stubenarrestes zu vertreiben versuchten; unter Menschen, mit
denen ich keine Lust hatte auch nur ein einziges Wort zu wechseln. Ich konnte
auf einen Wetterumschwung hoffen – die Hausbesitzer versicherten den Gästen
unbeholfen schuldbewusst, als wären sie persönlich verantwortlich für diese
wilden Launen der Natur, dass das Wetter auf dem Berggipfel von einer Stunde
auf die andere umschlagen könne. Sie stellten mitten im Speiseraum einen
riesigen Gebirgsweihnachtsbaum auf, und der vom Schneepuder glänzende,
kerzengerade Baum zerstreute die allgemeine
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