Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Autoren: Torsten Fink
Vom Netzwerk:
Prolog
    DER JUNGE STARRTE trotzig auf den Boden unter seinen nackten Füßen. Er wusste, dass sein Vater, der mit verschränkten Armen vor ihm stand, Recht hatte, aber das machte es nicht besser. Vorsichtig blickte er auf. Unten im Tal trieben seine Brüder Schafe und Wollziegen mit Pfiffen an der Wasserstelle zusammen. Es wurde Abend, die Sonne war schon hinter den steilen Felswänden verschwunden. Sein Bruder Enyak würde bald kochen, und dann würden sie zusammensitzen und sich Geschichten erzählen.
    »Es ist doch nur ein Lamm, Baba. Und du hast es mir geschenkt«, sagte er vorsichtig.
    Der Vater nahm die Äußerung seines Jüngsten ohne sichtbare Gefühlsregung zur Kenntnis. »Ich habe es dir geschenkt, mein Sohn, weil ich dachte, dass ich dir das Leben eines Tieres anvertrauen kann. Habe ich mich so in dir getäuscht?«
    Der Junge blickte weiter zu Boden. Sie standen in einem kleinen Geröllfeld. Die Steine schnitten ihm in die nackten Fußsohlen, aber das machte ihm nichts aus. Eine grüne Eidechse huschte dicht am Fuß des Jungen vorbei. Für einen Augenblick erwachte der Jagdtrieb in ihm, aber jetzt konnte er dem flinken Tier natürlich nicht nachstellen. »Ich kann es morgen früh suchen, gleich als Erstes«, sagte er und sah hoffnungsvoll zum strengen Gesicht seines Vaters auf.
    »Und der Bussard? Und die Gefahren der Nacht? Es ist dein Tier, aber das heißt auch, dass du dafür sorgen musst. Wenn du einmal ein Mann bist und eine eigene Herde hast, dann magst
du Lämmer verlieren, so viele du willst, aber nicht, solange ich das Oberhaupt unserer Familie bin!«
    »Aber Baba, es ist so weit weg. Ich schaffe es doch nie zurück, bevor es dunkel ist!«
    »Dann bleibst du eben über Nacht dort. Vielleicht wird dir das eine Lehre sein!«
    Der Junge schluckte. Der Zorn trieb ihm Tränen in die Augen. Wieso schenkte ihm sein Vater ein Lamm, wenn er dann nicht damit machen durfte, was er wollte? »Aber, Baba …«, begann er erneut.
    »Lewe!«, unterbrach ihn sein Vater schroff. »Je länger du wartest, desto länger wird es dauern. Also lauf!«
    Der Junge hätte gerne noch etwas gesagt, aber er spürte, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde. Es war einfach nicht gerecht. Er hatte es doch gut gemeint. Weit hinten in dieser Schlucht gab es eine Wiese mit saftigem Gras. Sie trieben die Tiere sonst nie hinein, weil dort mit Pferden kein Durchkommen war. Er hatte den weiten Fußweg auf sich genommen. Und das war der Dank? Die anderen würden essen, trinken, auf ihren Decken liegen und Geschichten hören. Und er? Wortlos drehte er sich um und stapfte davon. Das Geröll gab unter seinem wütenden Tritt nach. Er spürte die scharfen Kanten der Steine unter den Füßen. Er lief, ohne sich umzudrehen, bis zu dem kleinen Rinnsal, das aus der Schlucht kam. Und irgendwo in dieser Schlucht, die das Wasser in den Fels gefressen hatte, lag die Wiese, auf der er das schwarze Lamm zurückgelassen hatte.
     
    Elwah sah ihm nach. Der Knabe war noch keine acht Winter alt. Verlangte er zu viel von ihm? Er hatte das Tier wohl einfach vergessen. Lewe war genauso verträumt, wie er selbst es als Kind auch gewesen war. Sweru, sein Zweitjüngster, kam herangeritten.
Vorsichtig ließ er sein Pferd außerhalb des Geröllfeldes halten. »Willst du ihn wirklich alleine dorthinein schicken, Baba?«, fragte er. Mit zweifelndem Blick musterte er den düsteren Einschnitt im Berg. Über ihm schrie ein Bussard.
    »Er schafft das schon«, verkündete Elwah. Er war froh, dass die Mutter des Knaben im Lager des Klans und somit weit entfernt war - sonst hätte er sich einiges anhören dürfen. »Und du, wieso hilfst du deinen Brüdern nicht?«, fragte er Sweru.
    Sweru seufzte, wendete sein Pferd, drückte ihm die Fersen in die Flanken und trabte davon. Elwah sah ihm nach. Es waren gute Söhne. Die älteren trieben jetzt seine Tiere unten am Wasser zusammen. Er fragte sich, wie er früher all das ohne sie geschafft hatte. Die Erinnerung ließ ihn lächeln. Als er geheiratet hatte, hatte er genau drei Wollziegen und zwei Schafe besessen. Und nun gab es im Klan niemanden, der mehr Schafe hatte als er. Er stieg auf sein Pferd, das einige Schritte entfernt den kargen Boden nach Gras absuchte, und lenkte es hinab. Das Tal war abgeweidet, und morgen früh würden sie weiterziehen. Er fragte sich wieder, ob er seinen Jüngsten nicht zu hart angefasst hatte. Er war gerade halb so alt wie Sweru, der Zweitjüngste, und seine Mutter hatte den Nachzügler
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher