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Tod an der Ruhr

Tod an der Ruhr

Titel: Tod an der Ruhr
Autoren: Peter Kersken
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EINS

    Bedrückt schob Dechant Witte das Kirchenbuch zur Seite und legte den Federhalter zurück in die hölzerne Schatulle. Nein, er konnte die Toten nicht auf erwecken, das wusste er wohl. Aber irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen, den Tod der beiden Kinder durch seinen Eintrag in das Sterberegister zu besiegeln.
    Gerade erst hatte der noch junge Tag seine fünfte Stunde vollendet, doch für Dechant Anton Witte, den Pfarrer an Sankt Clemens in Sterkrade, war die Nacht schon vorbei. Er hatte kaum ein Auge zugetan, war in seiner Schlafkammer auf und ab gegangen, hatte versucht zu beten, bis seine trüben Gedanken ihn schließlich an den Schreibtisch seines Amtszimmers getrieben hatten. Nur gut, dass er Kaplan Winckelmann die Frühmesse übertragen hatte!
    Missmutig gähnte er, rückte seine Brille zurecht und drehte den Docht der Petroleumlampe ein wenig höher. Dann zog er das Kirchenbuch wieder zu sich heran. »Oh, mein Gott, was hast Du nur vor mit meinen braven Sterkradern?«, murmelte er, während er durch das Sterberegister der vergangenen Monate blätterte.
    Die Menschen starben an Auszehrung und an Wassersucht, sie starben an Schlagfluss und Brustfieber, an Wundentzündungen und Krampfanfällen. Nur hin und wieder, viel zu selten, befand Anton Witte, war unter den Todesursachen der Eintrag »Altersschwäche« zu lesen.
    Die Frauen starben qualvoll im Wochenbett, die Männer starben ebenso qualvoll zwischen glühenden Schmelzöfen und flüssigem Eisen, und die Kinder starben in den Armen ihrer Mütter. Ja, die Kinder, vor allem die Kinder starben. Sie starben an Lebensschwäche, an Krämpfen, an Entkräftung, an Keuchhusten und wieder an Schwäche, immer wieder an Schwäche.
    Als sei dem Schnitter Tod diese reiche Ernte noch nicht genug, war dann auch noch der Krieg über die Menschen gekommen, dieser unselige Bruderkrieg gegen die Österreicher. Sieben Männer würden nicht zurückkehren nach Sterkrade, hatten bei Trautenau und Königgrätz ihr Leben verloren. Sieben Männer, die ihre Familien zurückgelassen hatten, Frauen und Kinder, die jetzt nicht wussten, wie sie ohne ihre Ernährer weiterleben sollten.
    »Waren das denn nicht genug Prüfungen, oh Herr?«, fragte Anton Witte leise und starrte auf dieses eine Wort, das er in der vergangenen Woche schon dreimal in das Sterberegister eingetragen hatte: Cholera.
    Auch für die beiden Kinder des Hüttenarbeiters Schmelzer, die gestern, am heiligen Sonntag, heimgegangen waren zu ihrem himmlischen Vater, hatte der Pfarrer diesen Eintrag zu machen: »Todesursache Cholera«.
    Er schob das Kirchenbuch wieder von sich, drückte sich mühsam aus seinem schweren Schreibtischstuhl hoch und ging hinüber zum Fenster. Aus zwei Petroleumlaternen fiel trübes Licht auf den Kirchplatz und die Dorfstraße. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne aufgehen über den dritten September anno 1866. »Wenn der Herr überhaupt noch einmal die Sonne aufgehen lässt!«, seufzte Dechant Witte und schaute hinüber zur Kirche, zu seiner Clemenskirche.
    Seit dreiunddreißig Jahren war er nun schon in Sterkrade. Damals hatte der Bischof ihn hierher geschickt, in ein Niederrheindorf, nördlich der Emscher an der alten Poststraße zwischen Köln und Münster gelegen, in ein Bauerndorf mit wenig mehr als tausend Seelen.
    Nicht viel hatte er über Sterkrade gewusst, als er, gerade vierundzwanzig Jahre alt, an einem Frühlingstag des Jahres 1833 mit der Postkutsche aus Münster hier angekommen war.
    Das alte Kloster der Zisterzienserinnen, das hatte er natürlich gekannt. Es war über Jahrhunderte hinweg der Mittelpunkt des Ortes gewesen, bevor es in der Ära Napoleons zwischen die Mühlsteine der großen Politik geraten war.
    Von der aufstrebenden Eisenhütte am Rande des Dorfes, ja, von der hatte er damals auch schon gewusst, aber es war ein dürftiges Wissen gewesen.
    Was diese Gutehoffnungshütte für Sterkrade bedeutete, wie sie das Bauerndorf veränderte und die Menschen von ihren seit Generationen beschrittenen Lebenswegen fortriss, das hatte er nicht gewusst, das hatte er damals nicht einmal geahnt.
    Aber was hatte der junge Kaplan Witte überhaupt vom Leben gewusst? Nicht viel, wenn er es heute bedachte. Hier in Sterkrade hatte er das Leben kennengelernt. Hier erst hatte er erfahren, wie beschwerlich und mühselig es sein konnte, und hier hatte er gelernt, die Menschen zu lieben, die diese Mühsal geduldig ertrugen.
    Er hatte ihnen beigestanden in ihrem harten Leben, so gut er es
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