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Lilly Höschen (01): Walpurgismord

Lilly Höschen (01): Walpurgismord

Titel: Lilly Höschen (01): Walpurgismord
Autoren: Helmut Exner
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Clausthal-Zellerfeld, 2. Juli 2010
     
    Nehmt euch bloß in Acht vor der Alten! Wenn die ihr Maul aufmacht, kommt Gift und Galle raus. Ihren letzten Chef soll sie zuerst in den Wahnsinn und dann in den Tod getrieben haben. Bevor er morgens zur Schule ging, musste er schon Beruhigungsmittel nehmen. Nicht etwa, dass er Probleme mit Schülern oder Eltern gehabt hätte. Nein, es war die pure Angst vor diesem Weib. Und was war mit ihrem vorletzten Chef? Der lebt doch noch? Ja, aber auch nur, weil er rechtzeitig die Kurve gekriegt und in Frühpension gegangen ist. Ihrem Arzt soll sie mal gesagt haben, wenn man so einen Schmerbauch hat, sollte man sich nicht als Ernährungsberater aufspielen. Und beim Schlachter hat sie vom Stapel gelassen, dass der Fleischsalat aussieht wie schon mal gegessen. Das ist ja noch gar nichts gegen das, was sie seinerzeit dem Pastor gesagt haben soll. Was denn? Nun mischte sich ein Mann in seinem Oberharzer Jargon ein: Ich geh ja net in dar Körch. Nur an Heilich Amd. Aber als der Paster mal über de Moral von de jungn Leut gepredicht hat, hat se ne beim Rausgehn gesaacht, dass de Popen sich lieber um ihrn eichnen Pimmel kümmen solln, dann hättn se genuch zu tun. Das kleine Grüppchen von Leuten, die dieses Gespräch auf der Straße führten, konnte sich vor Lachen kaum halten. Aber so war es immer, wenn es um Lilly Höschen ging.
    Es kursierten unendlich viele Geschichten über sie. Niemand wusste mehr so recht, was Fantasie und was Wirklichkeit war. Das ist Lilly Höschen wie sie leibt und lebt. Eine kleine, zarte Frau, ehemals Oberstudienrätin für Deutsch und Englisch in Clausthal-Zellerfeld. Inzwischen war sie achtzig Jahre alt und natürlich längst pensioniert. Sie wohnte in Lautenthal. In ihrem Haus am Berg thronte sie geradezu über dem kleinen Städtchen. Im Umgang mit ihren Mitmenschen galt sie durchaus als freundlich, ja liebenswürdig und hilfsbereit. Aber wehe, wenn sie sich veranlasst sah, einen ihrer Giftpfeile abzuschießen. Da konnte ihr niemand ausweichen oder gar Kontra bieten. Das schlimmste Vergehen war, ihren Namen wie Hös-chen auszusprechen und nicht wie Hö-schen mit kurzem ö und sch . Wer das tat, hatte eine Feindin fürs Leben.
    Aber das Gerede der Leute interessierte Lilly nicht sonderlich. Und heute schon gar nicht, denn sie hatte es eilig. Der Sohn einer angesehenen Frau musste heute vor dem Amtsgericht Clausthal-Zellerfeld erscheinen, weil er angeblich geklaut hatte. Eine peinliche Sache. Und sie, Lilly, hatte davon erst heute morgen erfahren. Wie der Zufall es wollte, war ausgerechnet sie es, die dem jungen Mann ein Alibi geben konnte. Und zu allem Überfluss war ihr Großneffe Amadeus auch noch der Verteidiger in diesem Fall. Dieser Bengel, warum konnte er ihr nicht etwas mehr über seine Arbeit erzählen? Dann hätte sie alles im Vorfeld aufklären können und es wäre gar nicht erst zu dieser peinlichen Verhandlung gekommen.
    Mit ihren achtzig Jahren war Lilly noch gut beieinander. Sie stieg in ihren alten BMW und machte sich auf den Weg nach Clausthal-Zellerfeld. Diese beiden Städtchen mit zusammen fünfzehntausend Einwohnern waren 1924 zu einer Stadt zusammengeschlossen worden. Jahrhundertelang waren beide Orte selbstständig gewesen. Und bis in die Gegenwart hinein gab es nicht wenige Menschen, die in dem jeweils anderen Ort nicht tot überm Zaun hängen wollten, geschweige denn, dort wohnen würden. Die Talsenke ist bis heute die Grenze zwischen beiden Orten, und es ist von entscheidender Bedeutung, ob man ein paar Meter weiter hüben oder drüben wohnt. Es sollen schon Ehen daran gescheitert sein, weil man sich nicht einigen konnte, ob man die gemeinsame Wohnung in Clausthal oder in Zellerfeld haben sollte. Lilly war das egal. Sie wohnte in Lautenthal. Das Amtsgericht befand sich in Zellerfeld, direkt gegenüber der Kirche, die viele Clausthaler in ihrem ganzen Leben nie betraten. Es gab natürlich keinen Parkplatz am Gericht. Also stellte Lilly ihren Wagen am Minigolfplatz ab und ging dann eilig über die Straße, ihren glimmenden Zigarillo im Mund. Jeder kannte sie in der Stadt, in der sie fast vierzig Jahre lang unterrichtet und hin und wieder für Aufsehen gesorgt hatte. Die kleine, dünne, fast unscheinbar wirkende Frau mit ihrer mal weißen und mal blonden Lockenfrisur galt als Autorität. Wer ihr begegnete und nicht mehr rechtzeitig die Straßenseite wechseln konnte, grüßte sie freundlich und ging eiligen Schrittes weiter. Bloß nicht auf
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