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Plasma

Plasma

Titel: Plasma
Autoren: Jeff Carlson
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    Wieder musste sich Ruth ihren Weg durch ein Gewirr von Knochen bahnen und stolperte, als ihre Stiefelspitze in den Rippen und Wirbeln eines zersplitterten Brustkorbs hängen blieb. Die Interstate 80 war ein Friedhof, Meile um Meile. Tausende von Fahrzeugen standen dicht gedrängt auf der breiten Autobahn, alle voller zusammengesunkener Skelette, von denen jedes nach Osten ausgerichtet war.
    Immer nach Osten, auf die Berge zu.
    Auch Ruth war nach Osten unterwegs, unter der Gesichtsmaske keuchend und nach Luft ringend. Sie marschierte aber nicht geradeaus, sondern schob sich im Zickzack durch die Trümmer ringsum, denn viele Leute hatten ihre Flucht ebenfalls zu Fuß fortgesetzt, bis sie nicht mehr weiterkonnten. Überall lagen ihre Skelette inmitten des Abfalls. Manche hielten sogar noch Kisten und Taschen mit Schmuck und anderer Habe umklammert. Die meisten hatten sich da zusammengedrängt, wo der zum Stillstand gekommene Verkehr eine Sperre bildete.
    Jeder Schritt wurde durch ihren gebrochenen linken Arm erschwert. Die Manschette beeinträchtigte ihr Gleichgewicht. Schlimmer noch, sie vermied es, nach unten zu schauen. Die Schädel bildeten eine schweigende Masse. Leere Augenhöhlen, die sie anzustarren schienen. Unentwegt ließ Ruth ihre Blicke wie Flipperkugeln voraus und zur Seite schweifen. Nach drei Tagen auf der Straße kam ihr das Schwindelgefühl schon mehr oder weniger normal vor. Sie erinnerte sich kaum noch an etwas anderes. Da war es eine Hilfe, dass Cam immer vor und Newcombe immer hinter ihr ging. Sie trotteten im Gänsemarsch durch die Ruinen. Das gleichmäßige Dröhnen der Männerstiefel war ein Wegweiser, dem sie folgte.
    Dann kamen sie an eine Stelle, wo mehrere Autos verbrannt und explodiert waren. Herausgerissene Türen und weit verstreute Leichen verschlimmerten das Chaos noch. Zwischen den Fahrzeugen lagen Berge von Knochen-, Metall- und Glassplittern.
    Cam blieb stehen. »Wir müssen etwas anderes versuchen«, sagte er und spähte von der erhöhten Interstate zu dem ordentlichen Straßennetz der Stadt, das sich zu ihren Füßen ausbreitete. Da sie alle drei Schutzbrillen und Gesichtsmasken trugen, konnte Ruth zwar nicht genau erkennen, wohin er blickte, aber in der Stadt sah es noch schlimmer aus als hier draußen. Die schnurgeraden Straßen waren trügerisch. Überall lauerten Fallen und Sackgassen, das Gemetzel war unvorstellbar. Die sterblichen Überreste der Bewohner allein hier in der Bay Area von San Francisco füllten Hunderte von Quadratmeilen. Dazu kamen noch die Kadaver von Hunden, Katzen und allen anderen Warmblütern.
    »Hier entlang«, sagte Newcombe und deutete an den geschwärzten Autos vorbei die Böschung hinunter.
    Ruth schüttelte den Kopf. »Ich halte es für besser, wenn wir uns einen Weg durch das Zeug da bahnen.« Mehrere Fahrer hatten versucht, die Leitplanken zu rammen, um der Blockade zu entkommen – und ihre Autos lagen nun umgestürzt am Abhang. Sie hatte keine Lust, eine Autolawine in Gang zu setzen.
    »Sie hat recht«, sagte Cam. »Aber machen wir langsam!«
    »Dann lassen Sie uns Männer vorausgehen«, schlug Newcombe vor, an Ruth gewandt, und schob sich an ihr vorbei.
    Mark Newcombe war zweiundzwanzig, gut zehn Jahre jünger als Ruth, und er hatte vor dem Ausbruch der Maschinenpest zwei Jahre lang in einer Spezialeinheit der Army gedient. Das Ende der Welt hatte ihn nur noch mehr abgehärtet. Sein Gepäck wog mit Sturmgewehr und Pistolengurt an die fünfzig Pfund – und verlangsamte ihn nicht im Geringsten.
    Cam bewegte sich da weniger trittsicher. Er war verletzt, wie Ruth, was ihn ihrer Ansicht nach zu einem besseren Anführer machte. Cam besaß nicht die Selbstsicherheit des Soldaten. Er machte sich Sorgen, und das gefiel Ruth. Er war eher bereit einzugestehen, dass er sich getäuscht hatte – weshalb sie sich auch immer noch auf der Interstate befanden. Die Straße war zwar schlecht, aber sie führte zumindest weiter. Ihr kleiner Trupp hatte mehr als einmal versucht, querfeldein zu gehen, wo immer die Wohn- oder Geschäftsviertel ein Stück von der Autobahn zurückwichen. Aber da waren sie auf zu viele Zäune, Wasserläufe und spröde graue Dickichte mit Käfern und totem Holz gestoßen. Selbst die verbrannten Autowracks waren da besser.
    Newcombe zog sich einen Schnitt am Ellbogen zu und schlug sich beide Knie auf, ehe sie ganz hindurch waren. »Weiter«, sagte er nur, aber sobald sie den Brandschutt hinter sich gelassen hatten, zwang ihn Cam zum
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