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Lilly Höschen (01): Walpurgismord

Lilly Höschen (01): Walpurgismord

Titel: Lilly Höschen (01): Walpurgismord
Autoren: Helmut Exner
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für sie, dass ihr Sohn vor Gericht steht.«
    Dann wandte sie sich wieder dem Richter zu, erhob sich und verabschiedete sich mit den Worten:
    »Ich denke, ich habe meiner Bürgerpflicht Genüge getan und mache mich jetzt auf den Weg. Ich kann schließlich nicht meine ganze Zeit mit solchen Dummheiten vertrödeln.«
    »Das wirst du mir büßen, du alte Hexe!«, sagte der Staatsanwalt in Gedanken zu sich selbst. Der Wunsch, Lilly zu erwürgen, war allerdings nicht so groß wie sein Verlangen, nach Hause zu kommen und seine Frau zur Rechenschaft zu ziehen. Er war in diesem kleinen Städtchen erledigt. In jedem Zimmer dieses Gerichts würde man sich totlachen über das, was hier passiert war. Wahrscheinlich würde diese Geschichte in ganz Deutschland in jedem Gericht die Runde machen. Und nicht nur das: Es brauchte nur irgendein Heimatpostillenschreiber Wind davon bekommen und er wäre in der ganzen Gegend erledigt. Die Leute würden tuscheln oder gar mit dem Finger auf ihn zeigen, wenn er sich irgendwo blicken ließ.
    Richter Ulrich Geist blickte so verdutzt aus der Wäsche, dass es ihm die Sprache verschlug. Erst als Lilly den Saal verlassen hatte, sagte er ganz leise mit entrücktem Gesichtsausdruck: »Die Zeugin bleibt unvereidigt. Sie sind entlassen, Fräulein Hös-chen.«

Hochharz, 30. April 1990 (Walpurgis)
     
    »Und was willst du jetzt mit mir machen? Mich umbringen?«, fragte Miriam ihren Mann, während sie sich auf einen umgefallenen Baumstamm setzte. Sie war mit Georg in den Harz gefahren und in das abgeschiedene Hochmoor gegangen, um Zeit und Ruhe zu haben, sich mal richtig auszusprechen. Aus der Aussprache, die eigentlich zu einer Versöhnung hätte führen sollen, wurde schnell ein Verhör. Mit Schrecken stellte Miriam fest, dass ihr Mann mehr wusste, als sie in ihren kühnsten Träumen befürchtet hatte. Folglich konnte sie ihm auch gleich die ganze Wahrheit beichten. Danach würde ihr wohler sein.
    »Umbringen? Ja, das wäre eine Lösung«, sagte Georg.
    Zur selben Zeit sah der Mann, der ihnen auf der Spur war, Georgs Auto, das auf dem Waldparkplatz stand. Er wusste von Miriam, was sie heute vorhatte. Die große Aussprache mit Georg. Er hatte ihr dringend davon abgeraten. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte...
    Er parkte seinen Wagen neben dem von Georg. Sonst waren weit und breit keine Autos zu sehen. Das Wetter hier im Hochharz lud an diesem Walpurgistag wohl nur Hartgesottene zum Spaziergang im Moor ein. Er betrachtete sein Gesicht kurz im Rückspiegel, strich mit dem Finger über seinen Leberfleck auf der linken Wange, griff seinen Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. Er würde die beiden schon finden. Wenn hier die große Aussprache stattfinden sollte, die natürlich auch in einer Abrechnung enden konnte, dann musste er dabei sein. Er ging zügig durch den hohen, dunklen Fichtenbestand, der von Nebelschwaden durchzogen war. Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald und das Hochmoor lag vor ihm.

Lautenthal, 1. Mai 1990
     
    Am nächsten Tag telefonierte Amadeus Besserdich, der zwölfjährige Sohn von Georg und Miriam, mit seiner Großtante Lilly. Die Besserdichs hatten eine Wohnung in Hannover und Lilly wohnte in Lautenthal im Harz.
    »Und deine Eltern sind jetzt seit mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden?«, fragte Lilly besorgt. »Ich denke, wir müssen die Polizei verständigen. Amadeus, du bleibst in der Wohnung; ich setze mich ins Auto und komme nach Hannover. Und vorher rufe ich noch die Polizei an.«
    Lilly, die einzige nahe Verwandte, war eine Schwester von Miriams verstorbener Mutter. Sie war sechzig Jahre alt, Oberstudienrätin für Deutsch und Englisch in Clausthal-Zellerfeld und als solche berüchtigt für ihre Besserwisserei und Durchsetzungskraft. Man könnte es auch Dickschädeligkeit nennen, mit der sie mindestens ein Dutzend Kollegen und zwei Direktoren in die Frühpension und ganze Schülergenerationen in den Wahnsinn getrieben hatte. Lilly Höschen bestand darauf, dass man sie mit Fräulein anredete und ihren Namen wie Hö-schen aussprach, mit kurzem ö . Hinter ihrem Rücken sagten natürlich alle Hös-chen . Wer dumm genug war, sich dabei von ihr erwischen zu lassen, war erledigt.
    Als Lilly in Hannover eintraf, beratschlagte sie sich kurz mit Amadeus, packte ein paar Sachen für den Jungen, legte einen Zettel auf den Esstisch und machte sich mit ihm auf den Rückweg nach Lautenthal. Die Polizei hatte die
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