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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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EINS
    I ch bin vor allem das, was ich nicht vollenden konnte.
    Das wahrhaftigste der Leben, die ich führe, wie ein an seinem Ende verknotetes Schlangenknäuel, ist das nichtgelebte Leben. Ich bin ein Mensch, der unsagbar vieles auf dieser Welt erlebt hat. Und der im gleichen Maße nicht gelebt hat.
    Meine Eltern leben noch. Das bedeutet, dass ich noch nicht zur Gänze geboren bin. Sie runden noch meine kantigen Schultern ab. Gießen noch etwas Seele in meine Brust, die ihre Umrisse noch verändert, wie die Amphoren der alten Griechen, welche die Form des Weines annahmen, der sich in ihrem Inneren verdickte. Glätten noch mein kupfernes Antlitz.
    Weil ich noch nicht ganz geboren bin, ist der Tod noch fern. Ich bin so jung, dass ich ihn lieben könnte wie eine schöne Frau.
    Mein erster Lehrer war ein alter Engel. Hätte uns jemand von weit her betrachtet, hinten im Hof, er hätte ein Kind unter einem riesigen Nussbaum sitzen gesehen. Eigentlich aber saß ich zu Füßen jenes alten Engels, der mein Lehrer war. Sein Schatten roch nach Jod, und meine schreibenden Finger waren befleckt von diesem Schatten, wie geronnenes Blut. Sodass ich nicht mehr wusste, wessen Wunde das war, meine oder seine.
    Von ihm habe ich gelernt, dass der Name einem überhaupt nichts nützt. Selbst der eigene nicht. Er lehrte mich, ihn mit kleinem Anfangsbuchstaben zu schreiben, wie den Namen eines Baumes oder irgendeines Getiers. Ohne Worte sprachen wir miteinander, und es war ebenso gut, wie barfuß durch das Gras zu rennen. Es hinterlässt keine Spuren, deshalb ist Gehen durch das Gras niemals sündig. Ich warf die Sandalen weg und rannte über das Feld am Rande der Stadt. Sein Schatten legte sich über meinen, und wir waren glücklich.
    Eines Tages verschwand der alte Engel. Verwundert schaute ich den Nussbaum an, seinen dicken Stamm, die fleischigen Blätter. Auf den Ästen ließen sich Vögel nieder. Im Herbst schüttelte der Wind die Äste, und die Nüsse fielen zu Boden. Ich habe ihre Schale aufgeknackt und sie gegessen. Sie waren wohlschmeckend. Ich aß von seinem Leib. Seitdem habe ich den alten Engel nicht mehr gesucht. Nur der Jodgeruch ist geblieben, und manchmal sehe ich die grünlich-schwarzen Spuren an den Fingern. Ein Zeichen dafür, dass das Fleisch darunter noch nicht geheilt ist.
    Das Focșani meiner Kindheit war eine Stadt mit breiten Straßen und eindrucksvollen Häusern. Während ich heranwuchs, verengten sich die Straßen, und die Häuser verkümmerten. So waren sie immer gewesen, aber mein kindliches Auge hatte ihnen, wie übrigens der gesamten mich umgebenden Welt, allein für mich gewaltige Ausmaße verliehen. Man dürfte in das Fundament der Häuser und die Säulen der Flurgänge keine Balken aus trockenem Holz einbauen, sondern müsste lebende Stämme verwenden. Auf diese Weise würden die Häuser mit den Menschen wachsen, die Welt würde nicht kleiner und die Zeit nicht kürzer werden.
    Wenige Dinge hatten sich seit dem zweiten Krieg verändert. Unsere Vorstadt im Osten der Stadt hatte ungepflasterte Straßen und ebensolche Bürgersteige, die sich von der Straße lediglich durch einen handhohen Randstein abhoben. Die Zäune waren aus Holz, mitunter frisch gestrichen. Zumeist waren die ungleichmäßigen Latten mit Nägeln übereinander befestigt und blieben ungestrichen oder waren mit Kalk geweißelt. An den Zaunrändern wuchsen Kamillen. Im Sommer sammelte ich ihre kleinen duftenden Blüten. Großmutter legte sie im Hof zum Trocknen aus für die Heiltees, die wir im Winter bekamen. Ebenso hielt sie es sommers mit den Aprikosenhälften und etwas später im Jahr mit den Pflaumen und Apfelscheiben. Die getrockneten Früchte vertrieben den Hunger, denn man kaute lange darauf herum. Und wenn man Geduld hatte, sie ganz lange zu kauen, bekamen sie Fleischgeschmack.
    Unsere Straße war kurz. Sie hatte nur zehn Häuser, und an der Ecke erhob sich die Mauer einer Eisfabrik, die wir »Kühlschrank« nannten. Der Name der Straße lautete 6. März 1945. Auf einem Täfelchen war die Erklärung beigegeben: »Errichtung der ersten demokratischen Regierung«. Nach der Revolution von 1989, als dem Bürgermeisteramt die Regierung von 1945 nicht mehr gar so demokratisch vorkam, wurde der Straßenname aus mir unbekannten Gründen in Jiliște umbenannt. Damals habe ich einen Brief nachhause abgeschickt. Er kam nach ein paar Monaten an. Die Post hatte den Brief so, wie es ihr geboten schien, zwar in den Kreis Vrancea, aber in das Dorf
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