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Ein Herz bricht selten allein

Ein Herz bricht selten allein

Titel: Ein Herz bricht selten allein
Autoren: Gitta von Cetto
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Trotz seiner angeborenen Zurückhaltung nahm er sich die Freiheit heraus, sie verschämt hinters Ohr zu küssen. Seine Stoppeln kitzelten sie, doch er weckte sie nicht aus ihrem Traum. Anna träumte, sie hätte auf Elba mit ihren Ersparnissen ein kleines Haus gebaut, in dem sie sich überaus glücklich fühlte. Die Kinder, die wieder klein waren, gingen sorglos aus und ein, aus der Wand floß warmes und kaltes Wasser, und aus Deutschland flössen die Honorare. Die Trauben wuchsen ihr in den Mund.
    Was für ein Leben! In diesem Traum gab es einen grauhaarigen Herrn. Sie konnte sein Gesicht nicht genau erkennen, aber es mußte ein sehr guter Herr sein, ein nobler Charakter, Kavalier von echtem Schrot und Korn, denn er stand ihr in allen schwierigen Fragen ihres Lebens bei.
    Augenblicklich berührte er ihre Schulter, nicht aufdringlich, sondern sehr behutsam. Er machte sie darauf aufmerksam, daß die Sonne im Zenit stand und Anna in den nächsten zehn Minuten wahrscheinlich einem Sonnenstich erliegen und dann auf Elba beerdigt werden würde.
    Anna schreckte auf. Sie spürte Sand zwischen den Zähnen, sie hatte mit dem Mund auf der Erde geschlafen. Ein gelber Schmetterling gaukelte zwischen verwilderten Artischockenpflanzen, und der Herr mit den grauen Haaren schickte sich soeben an, Anna ein zweitesmal zu küssen. Es war der Esel Filippo. An seinem Hals hing ein kurzes Stück des Seiles, mit dem er an einem Feigenbaum angebunden gewesen war.
    Anna lachte leise vor sich hin. Ein Esel natürlich. Wer sonst sollte mich küssen, Mutter von drei erwachsenen Kindern, Großmutter, bald ein halbes Jahrhundert alt? Sie kroch in den Schatten der Feige, von der der Esel sich losgerissen hatte. »Komm her, Filippo, wir wollen uns miteinander unterhalten.« Sie suchte nach dem Zuckerstück, das sie immer bei sich hatte.
    Filippo kam heran, die spitzen Hufe elegant voreinander setzend. Er nahm den Zucker und blickte, während er ihn zwischen seinen langen, gelben Zähnen zermahlte, Anna nachdenklich an. Diese Frau war gut, denn sie gab ihm Zucker, und jeden Tag sprach sie mit ihm. Die sanfte Stimme hören und die Hand spüren, die ihm das Fell kraulte, war ein Glück, das so leicht keinem zweiten Esel auf Elba widerfuhr.
    »Was meinst du, soll ich mir vielleicht tatsächlich hier ein Häuschen bauen? Hast du mir das eingeflüstert?« Der Bauer Salvatore Buonamico könnte den Stall, den er als Bungalow bezeichnet, dann an andere unerschrockene Leute vermieten. Ich könnte meine Ferien mit ein bißchen mehr Komfort genießen und der Kröte in meiner Zisterne Lebewohl sagen.
    Filippo konnte nur mit den großen, runden Augen sprechen. Er sah Anna mitleidig an. Sein Blick ging ihr unter die Haut bis tief ins Herz hinein, wo sie die unangenehmen Wahrheiten verpackt hatte.
    »Ja, ja, ich weiß schon, was du sagen willst. Sie betrachten mich sowieso als verrückt, zum mindesten als harmlos irr, zurückgeblieben, wie Mütter nun mal sind. Zeitfremd, verständnislos für die Probleme der Jugend.«
    Filippo meinte, er brauche ein zweites Stück Zucker, um sich zu diesem Gedanken äußern zu können. Er kaute lange und mit abgewandtem Gesicht. Seine langen Ohren drehten sich nach allen Richtungen wie ein Radargerät, und der Schwanz klatschte gegen seine Keulen. Schließlich kam er zu dem weisen Ausspruch: »Jedes Wesen muß mit seiner eigenen Verrücktheit zurechtkommen, Signora.«
    »Danke, Filippo, du hast recht. Aber es ist schwer, sich sein Ich so zurechtzuzimmern, daß man für sich selbst und seine Kinder einigermaßen erträglich ist. Was soll ich tun? Ich stehe an einem Wendepunkt, ich spüre es.«
    Der Esel, der von einem Geschwader Fliegen umkreist wurde, hob den Kopf mit den geblähten Nüstern. Der Wind hatte sich gedreht und kam jetzt aus Westen, wo der Monte Capanne, der höchste Berg Elbas, das tiefdunkle Blau seines sanft abfallenden Gipfels in den gleißenden Himmel hineinmalte. Filippo begann in den Westwind zu wiehern, der das Meer kräuselte. »Machen Sie Ihre Eselei, Signora, Sie sind reif. Sie müssen Ihr Haus bauen.«

    Die nächsten Tage verbrachte Anna in einem halbtrunkenen Zustand. Sie besichtigte Grundstücke. Alle Zarrinis, Puccinis, Turronis, Rossis und Roccas hatten was zu verkaufen, mit und ohne Wasser, mit und ohne Blick aufs Meer, mit und ohne Pinien, aber niemals ohne die Vorstellung, daß die Signora eine steinreiche Frau sei. Diese Dame fuhr in ihrem Wagen spazieren, klimperte ein bißchen auf der
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