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Tod an der Ruhr

Tod an der Ruhr

Titel: Tod an der Ruhr
Autoren: Peter Kersken
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vermochte, zuerst als ihr Kaplan und später als ihr Pastor. Vor acht Jahren war er auch noch Landdechant des Dekanats Wesel geworden und hatte sich über diese Anerkennung seines Wirkens gefreut. Aber der bedeutendste irdische Lohn für seine rastlosen Mühen war ihm stets die Zuneigung seiner Schäfchen gewesen.
    Wenn sie Halt brauchten und Trost in diesem Jammertal, dann war er an ihrer Seite. Wenn sie fassungslos dastanden in ihrem Elend, dann stand er neben ihnen. Dafür liebten sie ihn, seine Sterkrader.
    Doch in dieser Septembernacht des Jahres 1866 mühte er sich selbst um Halt, brauchte er selbst Trost, suchte er selbst nach Antworten. Unverwandt sah er zur Kirche hinüber. Er ließ zu, dass seine Gedanken ihm entglitten – bis er erkannte, was er da tat: Er haderte mit Gott.
    Anton Witte bekreuzigte sich. »Verzeih mir, Herr!«, murmelte er. »Ich weiß, dass Deine Ratschlüsse unergründlich sind, und dass es mir nicht zusteht, an ihnen zu zweifeln.«
    Wieder seufzte er, tiefer dieses Mal als zuvor. Dann sagte er laut: »Ich muss es Dich dennoch fragen, himmlischer Vater, mit den verzweifelten Menschen hier und mit Deinem Sohn am Kreuz: Warum hast Du uns verlassen?«
    Düster stand die Clemenskirche da, kaum hob sie sich ab vom finsteren Nachthimmel, der sie umwölbte, und weder von der Kirche herüber noch aus dem Himmel herab gab Gott der Herr seinem Diener Anton Witte eine Antwort.
    Ein Schatten huschte über den Kirchplatz, bald darauf ein zweiter. Ihm folgten weitere in immer kürzer werdenden Abständen. Die schemenhaften Gestalten verschwanden in der Klostergasse, und Witte wusste, dass sie am Ende des Gässchens über den Marktplatz laufen und nach links in die Hüttenstraße einbiegen würden. Er wusste, dass ihnen ein schwerer Arbeitstag in den Werkstätten der Gutehoffnungshütte bevorstand.
    Zwei der schattenhaften Wesen hatten es eiliger als die anderen.
    Sie näherten sich rasch, bogen nicht zur Klostergasse ab, sondern kamen direkt auf das Pfarrhaus zugelaufen. Nur Augenblicke später schlug der schwere Messingklopfer gegen die eichene Haustür.
    Dechant Witte öffnete das Fenster und schaute hinunter. »Was gibt es denn?«
    »Ein Glück, dass Sie schon wach sind, Herr Pastor!«, rief eine noch junge Männerstimme. »Da liegt ein Toter, oben hinterm Hagelkreuz, mitten auf dem Postweg. Sie müssen sofort kommen!«
    »Nein, guter Gott, nicht schon wieder!«
    »Was haben Sie gesagt, Herr Pastor?«
    »Seid Ihr sicher, dass der Mensch tot ist?«, fragte Anton Witte zurück.
    »Ja, ziemlich!«, sagte einer der beiden Männer.
    »Was heißt ziemlich?«
    »Er schien tot zu sein«, kam die Antwort.
    »Gebt dem Heildiener Möllenbeck Bescheid!«, wies der Dechant die jungen Männer an, »und dem Polizeidiener Grottkamp auch!«
    »Und Sie, Herr Pastor, kommen Sie nicht?«
    »Natürlich komme ich!« Dechant Witte schloss das Fenster, ging hinüber zu seinem Schreibtisch, schlug das Kirchenbuch zu und löschte die Petroleumlampe.

    Martin Grottkamp war schlecht gelaunt. Das Wetter ging ihm seit Tagen gegen den Strich. Es war zu kalt und zu regnerisch für die Jahreszeit.
    »Gib auf Aegidius gut acht, er sagt dir, was der Monat macht«, knurrte er vor sich hin. Vorgestern, am Aegidiustag, hatte er zusammen mit Jacob Möllenbeck die Handwerker beaufsichtigt, die die Baracke für die Cholerakranken herrichteten – und war klatschnass dabei geworden. Es war also nicht damit zu rechnen, dass sich das Wetter in den nächsten Wochen bessern würde.
    Er schlang sein schwarzes Cape enger um die Uniform, deren einst kraftvolles Blau mit den Jahren einem tristen Blaugrau gewichen war. Erst vor ein paar Tagen hatte seine Hauswirtin, die Witwe Schlagedorn, ihn darauf angesprochen. »Meinem Rock ist es wohl gerade so ergangen wie dem Himmel über Sterkrade. Der ist auch längst nicht mehr so blau wie früher«, hatte Grottkamp geantwortet. Die alte Frau Schlagedorn hatte verstanden, was er meinte, und sie hatte wehmütig genickt.
    Die blitzenden Messingknöpfe und der stets blank gewienerte Ledergürtel verliehen seiner Uniform allerdings noch immer jenen hoheitlichen Glanz, den sie nach Grottkamps fester Überzeugung auszustrahlen hatte. Und so schien es ihm in der Ordnung zu sein, dass der Polizeidiener von Sterkrade einen Rock trug, der die Farbe des Himmels über dem Kirchdorf angenommen hatte.
    Jetzt stapfte er aus dem Dorf hinaus in Richtung Hagelkreuz. Der Morgen dämmerte trübe. Grottkamp zog seine
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