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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen
Autoren: John Hart
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EINS
    M anche behaupten, im Knast stinkt es nach Verzweiflung. Was für ein Quatsch. Wenn es im Knast nach irgendwas stinkt, dann nach Angst: Angst vor den Wärtern, Angst vor Rudelvergewaltigung, Angst davor, vergessen zu werden von denen, die dich mal geliebt haben und es vielleicht nicht mehr tun. Aber hauptsächlich, glaube ich, ist es Angst vor der Zeit und vor den dunklen Gedanken, düsteren Geschehnissen, die in den unerforschten Winkeln des Geistes hausen. Deine Zeit absitzen, nennt man es ein Riesenwitz. Ich bin lange genug dabei, um die Wirklichkeit zu kennen: Die Zeit sitzt dich ab.
    Ein paar Stunden lang war ich in diesem Knastparfüm gebadet worden, hatte Knie an Knie mit einem Mandanten gesessen, der eben zu lebenslänglich ohne Bewährung verurteilt worden war. Das Gericht hatte ihn verdammt, wie ich es ihm vorausgesagt hatte. Das Beweismaterial der Staatsanwaltschaft war überwältigend, und die Geschworenen hatten null Mitgefühl für einen dreifachen Versager, der seinen Bruder bei einem Streit um die Fernbedienung erschossen hatte. Zwölf seiner angeblichen Mitbürger, und nicht einen von denen juckte es, dass er getrunken hatte, dass er voll war bis an die Kiemen und dass er es nicht gewollt hatte. Niemanden juckte es, dass sein Bruder selbst ein vorbestraftes Arschloch war — nicht die Jury und mich am allerwenigsten. Ich wollte ihm nur erklären, welche Rechtsmittel ihm zur Verfügung standen, ihm etwaige juristische Fragen beantworten und dann machen, dass ich wegkam. Meine Gebührenrechnung an den Staat North Carolina konnte bis zum nächsten Morgen warten.
    An den meisten Tagen war ich gespalten, was meinen auserwählten Beruf anging, aber an einem wie diesem war mir das Dasein als Anwalt verhasst, und dieser Hass reichte so tief, dass ich schon befürchtete, irgendwas sei vielleicht nicht in Ordnung mit mir. Ich verbarg ihn, wie andere eine perverse Neigung verbergen. Und an diesem Tag war es schlimmer als an den meisten anderen. Vielleicht lag es an dem Fall oder an dem Mandanten oder an den emotionalen Nachwehen einer weiteren unnötigen Tragödie. Ich war schon hundertmal in diesem Raum gewesen, aber aus irgendeinem Grund fühlte es sich diesmal anders an. Die Wände schienen sich zu verschieben, und einen Moment lang war ich desorientiert. Ich versuchte das Gefühl abzuschütteln, räusperte mich und stand auf. Wir hatten es mit üblen Fakten zu tun, aber die Entscheidung für einen Prozess war nicht meine gewesen. Als er blutüberströmt und weinend aus dem Trailer gestolpert war, hatte er die Pistole in der einen und die Fernbedienung in der anderen Hand gehabt. Es war helllichter Tag gewesen und er sternhagelvoll. Der Nachbar schaute aus dem Fenster, als mein Mandant anfing zu schreien. Er sah das Blut und die Pistole und rief die Cops. Kein Anwalt hätte diesen Prozess gewinnen können — das hatte ich ihm auch gesagt. Ich hätte zehn Jahre Haft für ihn herausholen können, aber er weigerte sich, den Deal zu akzeptieren, den ich mit dem Staatsanwalt ausgehandelt hatte. Er wollte nicht mal darüber reden.
    Vielleicht war die Schuld zu groß. Vielleicht brauchte ein Teil seiner selbst die Strafe. Was immer es war, jetzt war es vorbei. Schließlich riss er seinen Blick von den Knastlatschen los, die vor seinen Füßen schon tausend andere kennengelernt hatten, und zwang sich, mich anzusehen. Seine Nasenlocher glänzten nass im harten Licht, und seine roten Augen flackerten voller Angst vor dem, was sie da in seinem Puzzleverstand erblickten. Er hatte abgedrückt, und die ganze brutale Wahrheit war ihm jetzt klar geworden. Ihre Spur hatte sich durch sein Gesicht geschlängelt, als wir während der letzten Stunden miteinander geredet hatten. Seine Realitätsverleugnung war stotternd zum Stillstand gekommen, und ich hatte ungerührt zugesehen, wie seine Hoffnung schrumpfte und erstarb. Ich hatte das alles schon oft gesehen.
    Ein nass gurgelndes Husten, dann wischte er sich mit dem Unterarm Schleim über die Wange. »Das war's also?«, fragte er.
    Ich sparte mir die Mühe einer Antwort. Er nickte schon vor sich hin, und ich konnte seine Gedanken sehen, als wären sie in die nassen Haare geschrieben, die zwischen uns hingen: lebenslänglich ohne Bewährung, und er war noch nicht mal dreiundzwanzig. Meistens dauerte es ein paar Tage, bis diese brutale Wahrheit sich durch die aufgesetzte Fassade der Abgebrühtheit fräste, mit der jeder dämliche Killer hier hereinkam, als wäre das so was
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