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Spur ins Eis

Spur ins Eis

Titel: Spur ins Eis
Autoren: Blake Crouch
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1
    Die falschen Sterne
    Am Abend des letzten guten Tages, den sie beide in den nächsten Jahren erleben würden, zog das Mädchen die Glasschiebetür auf und trat auf die hintere Veranda.
    »Daddy ?«
    Will Innis legte die Akte beiseite und zog Devlin auf seinen Schoß. Seine Tochter war klein für ihre elf Jahre, und er fühlte ihre zarten Knochen, als er die Arme um sie legte.
    »Was tust du hier draußen ?«, fragte sie. Ihre Stimme war noch belegt von der letzten Erkältung, die sie gehabt hatte.
    »Ich arbeite an einem Plädoyer für meine Verhandlung morgen früh.«
    »Vertrittst du wieder den Bösen ?«
    Will lächelte. »Du bist wie deine Mutter. So darf ich es nicht sehen, Süße.«
    »Was hat er denn getan ?« Die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schimmer auf das Gesicht des kleinen Mädchens, und die helleren Strähnen in ihrem ansonsten tiefschwarzen Haar traten deutlicher hervor.
    »Er ist wegen vermeintlichem …«
    »Was bedeutet das ?«
    »Vermeintlich ?«
    »Ja.«
    »Das bedeutet, dass es nicht bewiesen ist. Er wird beschuldigt, Drogen verkauft zu haben.«
    »So was, was ich genommen habe ?«
    »Nein, deine Drogen sind gut. Sie helfen dir. Er hat schlechte Drogen an die Leute verkauft.«
    »Warum sind sie schlecht ?«
    »Weil du davon die Kontrolle über dich verlierst.«
    »Warum nehmen die Leute sie denn dann ?«
    »Sie finden es schön, wie sie sich dann fühlen.«
    »Und wie fühlen sie sich ?«
    Er küsste sie auf die Stirn und blickte auf seine Uhr. »Es ist schon nach acht, Devi. Komm, wir gehen mal inhalieren.«
    Sie seufzte, widersprach aber nicht. Sie versuchte nie, die Prozedur zu umgehen.
    Er stand auf und trat mit seiner Tochter auf dem Arm ans Geländer.
    Sie blickten in die Wildnis, die an Oasis Hill, ihren Vorort grenzte. Die Gärten bei den Häusern auf der No-Water Lane bestanden aus der Sonora-Wüste.
    »Schau mal«, sagte er. »Siehst du sie ?« In einiger Entfernung bewegten sich Punkte aus einer trockenen Schlucht durch die Wüste auf einen schattenlosen Wald aus riesigen Kakteen zu, die sich gegen den Horizont abzeichneten.
    »Was ist das ?«, fragte sie.
    »Kojoten. Wollen wir wetten, dass sie anfangen zu jaulen, wenn die Sonne untergeht ?«
    Als Devlin im Bett lag, las er ihr aus Gefangene der Zeit vor. Sie waren mittlerweile schon beim vorletzten Kapitel angelangt, aber Devlin war erschöpft und schlief ein, noch ehe Will die zweite Seite beendet hatte.
    Er klappte das Buch zu, legte es auf den Teppich und schaltete das Licht aus. Kühle Wüstenluft drang durch ein offenes Fenster ins Zimmer. Im Nachbargarten surrte die Bewässerungsanlage. Devlin gähnte und gab einen gurrenden Laut von sich. Er musste daran denken, wie er sie als Baby in den Schlaf gewiegt hatte. Ihre Augenlider flatterten, und sie sagte leise : »Mom ?«
    »Sie hat Spätdienst in der Klinik, Süße.«
    »Wann kommt sie nach Hause ?«
    »In ein paar Stunden.«
    »Sagst du ihr, sie soll noch zu mir kommen und mir einen Kuss geben ?«
    »Ja, das mache ich.«
    Er war mit seinen Vorbereitungen auf die morgige Verhandlung noch nicht fertig, aber er blieb und strich Devlin über die Haare, bis sie wieder eingeschlafen war. Schließlich erhob er sich vorsichtig von ihrem Bett und ging auf die Terrasse, um seine Bücher und Akten zu holen. Vor ihm lag eine lange Nacht. Eine Kanne mit starkem Kaffee würde ihm sicherlich helfen.
    Nebenan schwiegen die Sprinkler.
    Eine einsame Grille zirpte in der Wüste.
    Irgendwo über Mexiko zuckten Blitze über den Himmel, und die Kojoten begannen zu heulen.

2
    Das Gewitter holte Rachael Innis fünfzig Kilometer nördlich der mexikanischen Grenze ein. Es war halb zehn Uhr abends, und sie hatte einen langen Tag in der freien Klinik in Sonoyta hinter sich, wo sie einmal in der Woche kostenlos ihre Zeit und ihre Dienste als zweisprachige Psychologin zur Verfügung stellte. Die Scheibenwischer glitten hin und her, und im Licht der Scheinwerfer sah sie, dass Dampf vom Asphalt der Straße aufstieg. Im Rückspiegel sah Rachael etwa hundertfünfzig Meter entfernt die Scheinwerfer, die sie seit zehn Minuten verfolgten.
    Auf dem Seitenstreifen direkt vor ihr tauchten auf einmal leuchtende Punkte auf. Sie trat heftig auf die Bremse und der Grand Cherokee geriet ins Schleudern, bevor er zum Stehen kam. Ein Reh und sein Kitz traten mitten auf die Straße und blickten wie gebannt in das grelle Licht. Rachael ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken, schloss die Augen und holte tief
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