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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen
Autoren: John Hart
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wie sein abartiges Geburtsrecht. Vielleicht hatte dieser Knallkopf doch mehr Grips, als ich ihm zugetraut hatte. In der kurzen Zeit seit dem Urteil hatte er den starren Blick des Lebenslänglichen entwickelt. Fünfzig, vielleicht sechzig Jahre hinter denselben Ziegelmauern. Keine Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Nicht zwanzig oder dreißig Jahre, nicht mal vierzig, sondern lebenslänglich — in Großbuchstaben. Mich würde es umbringen. So wahr mir Gott helfe.
    Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich jetzt fast zwei Stunden hier war, und das war mein Limit. Ich wusste aus Erfahrung, dass der Geruch sich inzwischen in meinen Kleidern festgesetzt hatte, und sah den feuchten Fleck, wo seine Hände nach meiner Jacke gegrapscht hatten. Er hatte mitbekommen, wie ich das Handgelenk mit der Uhr hob, und senkte den Blick. Seine Worte verdampften in der stillen Luft und hinterließen ein Vakuum, das mein Körper ausfüllte, als ich aufstand. Ich streckte ihm nicht die Hand entgegen, und er tat es auch nicht, aber ich bemerkte eine neue Art von Starre in seinen Fingern.
    Er war vorzeitig gealtert, mit dreiundzwanzig Jahren beinahe gebrochen, und etwas, das ich längst hinter mir zu haben glaubte, schlich sich in mein Herz: Man konnte es für Mitgefühl halten. Er fing an zu weinen, und seine Tränen tropften auf den dreckigen Boden. Er war ein Mörder, ohne Zweifel, aber morgen früh würde für ihn die Hölle auf Erden beginnen. Beinahe gegen meinen Willen legte ich ihm die Hand auf die Schulter. Er blickte nicht auf, aber er sagte, es tue ihm leid, und ich wusste, dass es diesmal wirklich stimmte. Ich war seine letzte Verbindung zur wirklichen Welt, zu der mit den Bäumen. Alles andere war von der rasiermesserscharfen Realität des Urteils durchschnitten worden. Seine Schulter begann unter meiner Hand zu zucken, und ich fühlte eine Leere, die so groß war, dass man sie beinahe greifen konnte. Das war der Moment, als sie kamen, um mir zu sagen, dass der Leichnam meines Vaters endlich gefunden worden war. Die Ironie des Schicksals entging mir nicht.
    Der Gerichtsdiener, der mich aus dem Gefängnis von Rowan County zum Büro des Staatsanwalts führte, war ein großer, breitknochiger Mann mit grauen Borsten da, wo die meisten von uns Haare haben. Er sparte sich jeden Smalltalk, als wir uns durch Gänge mit wartenden Delinquenten schlängelten, und ich ließ ihn in Ruhe. Ich war noch nie besonders gesprächig.
    Der Staatsanwalt war ein kleiner, entwaffnend rundlicher Mann, der das natürliche Blinzeln in seinen Augen nach Belieben abschalten konnte; es war ein erstaunlicher Anblick. Für manche war er ein Politiker, offen und warmherzig. Für andere war er das kalte, leblose Werkzeug seines Amtes. Für uns wenige hinter den Kulissen war er ein anständiger Kerl; wir kannten und wir mochten ihn. Er hatte für sein Vaterland zwei Kugeln eingefangen, schaute jedoch trotzdem nicht auf Leute wie mich herab, die mein Vater oft als »die weiche Kehrseite einer Generation ohne Krieg« bezeichnete. Er achtete meinen Vater, aber er mochte mich als Person, und ich hatte nie genau gewusst, warum. Vielleicht, weil ich nicht laut die Unschuld meiner schuldigen Mandanten beteuerte, wie die meisten Strafverteidiger es taten. Vielleicht auch wegen meiner Schwester, doch das war eine ganz andere Geschichte.
    »Work«, sagte er, als ich hereinkam. Er stand nicht auf. »Tut mir verdammt leid. Ezra war ein großartiger Anwalt.«
    Als Ezra Pickens' einziger Sohn war ich bei ein paar Leuten als Jackson Workman Pickens bekannt. Alle andern nannten mich gern »Work«, was vermutlich humorvoll gemeint war.
    »Douglas.« Ich nickte und drehte mich um, als die Bürotür sich hinter mir schloss. Der Gerichtsdiener war gegangen. »Wo haben Sie Ezra gefunden?«, fragte ich.
    Douglas schob seinen Stift in die Hemdtasche und schaltete sein Blinzeln ab. »Die Sache ist ungewöhnlich, Work; erwarten Sie also keine besondere Behandlung. Sie sind hier, weil ich dachte, Sie sollten es von mir erfahren, bevor die Sache an die Öffentlichkeit dringt.« Er schwieg kurz und schaute aus dem Fenster. »Ich dachte, vielleicht könnten Sie es Jean sagen.«
    »Was hat meine Schwester damit zu tun?«, fragte ich. Ich wusste, dass meine Stimme in dem kleinen, vollgestopften Zimmer laut klang. Sein Blick wandte sich mir zu, und einen Moment lang waren wir Fremde.
    »Ich will nicht, dass sie es in der Zeitung liest. Sie etwa?« Seine Stimme war kühl geworden. Der Moment
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