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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen
Autoren: John Hart
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während ich die Tür im Auge behielt. Irgendwann fing mein Blick an zu wandern, und ich betrachtete die Leute an ihren Tischen. Ein attraktives schwarzes Paar wurde von einer mageren weißen Kellnerin bedient. Sie hatte ein Piercing in der Zunge, und ein silbernes Kreuz war durch ihre Augenbraue gestochen. Die beiden lächelten sie an, als hätten sie etwas miteinander gemeinsam. Der Theke am nächsten saßen zwei Frauen. Sie wirkten wie eine Herausforderung für die spindeldürren Stuhlbeine, die aber robuster waren, als sie aussahen. Sie drängten ihre Kinder, mehr zu essen, denn heute war »All You Can Eat«-Donnerstag.
    Am Tisch neben mir saßen drei junge Männer, wahrscheinlich vom örtlichen College, die darauf aus waren, sich am frühen Nachmittag einen Bierrausch anzutrinken. Sie waren laut und unflätig, aber sie amüsierten sich. Ich spürte den Rhythmus ihres Geplauders und versuchte mich zu erinnern, wie dieses Alter für mich gewesen war. Ich beneidete sie um ihre Illusionen.
    Die Tür ging auf, und mattes Sonnenlicht floss herein. Ich drehte mich um und sah meine Schwester. Meine Melancholie schwoll an, als ich sie beobachtete. Sie trug ihren Abstieg, wie ich meinen Aktenkoffer trug: geschäftsmäßig. Die rote Pizza-Box unter ihrem Arm sah aus, als gehörte sie dort hin. Doch ihre blasse Haut und ihr gehetzter Blick wollten nie zu meinen Erinnerungen an sie passen, ebenso wenig wie die schmuddeligen Laufschuhe oder die verschlissene Jeans. Ich betrachtete ihr Profil, als sie an der Theke stehen blieb. Früher war es weich gewesen, aber es war kantig geworden, und die straffen Züge um Augen und Mund waren neu. Ihr Ausdruck war unergründlich. Ich konnte in ihrem Gesicht nicht mehr lesen.
    Sie war gerade ein Jahr über dreißig und immer noch attraktiv, zumindest körperlich. Aber seit einer Weile war etwas nicht mehr in Ordnung; sie war nicht mehr wie früher. Irgendetwas war aus dem Gleis geraten. Für mich war es unübersehbar, denn ich kannte sie am besten. Andere merkten es inzwischen auch. Es war, als hätte sie aufgehört, sich zu bemühen.
    Sie stellte die Isobox auf die Theke und starrte die schmutzigen Pizzaöfen an, als wartete sie darauf, dass jemand ihr Gesichtsfeld durchquerte. Ich sah keine Bewegung, nicht mal ein Zucken. Ich spürte das Elend, das in Wellen von ihr ausstrahlte.
    Die plötzliche Stille am Tisch der jungen Männer lenkte mich ab, und ich sah, dass sie meine Schwester anstarrten. Sie stand im Halbdunkel vor der Theke, ohne es zu bemerken.
    »Hey«, sagte einer von ihnen zu ihr. Dann noch einmal, ein bisschen lauter: »Hey.«
    Seine Freunde beobachteten ihn mit breitem Grinsen. Er beugte sich halb von der Bank und zu meiner Schwester hinüber. »Gibt's diesen Arsch auch zum Mitnehmen?«
    Einer seiner Freunde stieß einen leisen Pfiff aus. Jetzt starrten alle sie an.
    Ich wollte aufstehen — es war ein Reflex —, aber sie drehte sich zu dem Tisch mit den betrunkenen Jungen um, und ich erstarrte. Etwas zuckte hinter ihrem Gesicht. In diesem Moment hätte sie irgendjemand sein können.
    Oder niemand.
    Sie hob beide Hände mit hochgerecktem Mittelfinger und blieb eine paar Sekunden lang in dieser Haltung.
    Dann kam der Geschäftsführer aus der Küche. Er rückte seinen Gürtel zurecht, lehnte den Bauch, der darüber hing, an die Theke und sagte etwas zu Jean, das ich nicht verstehen konnte. Sie nickte dazu, und ihr Rücken rundete sich; sie schien unter seinen Worten zusammenzusinken. Er machte eine kleine Geste in Richtung des Tisches, sagte noch ein paar Worte und deutete dann auf mich. Zuerst dachte ich, sie erkenne mich nicht; ihre Lippen strafften sich im Ausdruck des Abscheus, aber dann kam sie herüber. Als sie am Tisch der Betrunkenen vorbeikam, zeigte sie ihnen noch einmal den Mittelfinger; dabei hielt sie die Hand dicht vor der Brust, damit der Geschäftsführer es nicht sehen konnte.
    Die Jungen lachten und wandten sich wieder ihrem Bier zu. Sie schob sich mir gegenüber auf die Bank.
    »Was machst du hier?«, fragte sie ohne Einleitung und ohne zu lächeln. Ihre Augen über der violett angehauchten Haut blickten leer.
    Ich betrachtete sie genauer und versuchte herauszufinden, warum sie so unverbunden mit mir erschien. Sie hatte immer noch die gleiche klare Haut, so blass, dass sie beinahe durchscheinend wirkte. Große, schräge Augen und ein zartes Kinn. Dunkles Haar, das in ungekämmten Wellen in ihre Stirn und auf ihre Schultern fiel. Aus der Nähe sah sie
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