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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Autoren: Oliver Jahraus
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Von den Anfängen

1. Wann beginnt die deutsche Literatur? Um genau zu sein, im März 1774, als Johann Wolfgang Goethe seinen ersten Roman mit noch nicht einmal 25 Jahren vollendet. Am 1. Februar hatte er mit der Niederschrift begonnen, am 8. März war er sich sicher, dass es gut werden würde. Goethes
Werther
– der genaue Titel trägt dieses heute überflüssige Genitiv-s:
Die Leiden des jungen Werthers
– ist der erste moderne deutsche Roman, wie der Germanist Gerhard Neumann feststellt. Mit ihm beginnt die moderne deutsche Literatur. Man kann heute kaum mehr ermessen, welche tiefgreifende literarische Revolution mit diesem Roman verbunden war. Er hat Goethe an die Spitze einer literarischen Bewegung katapultiert.
Werthers
Erfolg und
Werthers
Wirkung sind wesentliche Faktoren und Indikatoren einer tiefgreifenden Neuerung.
    Am 29. Oktober 1772 erschoss sich der Jurist Karl Wilhelm Jerusalem, der zu den Bekannten Goethes zählte, am Tag darauf erlag er seiner Verletzung, also nur fast zwei Monate früher als dann Goethes fiktive Werther-Figur. Bei Jerusalem soll auch Lessings
Emilia Galotti
aufgeschlagen auf seinem Pult gefunden worden sein, ein Motiv, das Goethe übernimmt. Dass der
Werther
nun selbst eine Selbstmordserie ausgelöst hat, darf schon längst, zum Beispiel durch die Untersuchungen von Georg Jäger, als widerlegt gelten. Dennoch war der Werther ein Kultbuch, das vor allem eine junge Generation gelesen haben musste. Und dass wir noch heute diese Wirkung erahnen können, liegt daran, dass die Figur Werthers tatsächlich zu seinen Lesern spricht. Denn der
Werther
ist ein Briefroman. Fast das gesamte Buch besteht aus den Briefen Werthers, die er an seinen Freund Wilhelm schreibt.
    Die Geschichte Werthers ist schnell erzählt. Zu Beginn des Romans hat sich Werther aus seinen bisherigen Verpflichtungen losgesagt und sich nach Wahlheim begeben. In dieser Umgebung gibt er sich ganz der Naturwahrnehmung hin, feiert sein subjektives Gefühl, hält sich von allen Büchern fern und ist auch sonst nicht mehr künstlerisch tätig. In dieser Situation lernt er auf einer Tanzveranstaltung Lotte kennen, die jedoch schon mit Albert verlobt ist. Werther verliebt sich in Lotte, er schwärmt und treibt einen ungeahnten Gefühlskult. Da diese Situation nicht auf Dauer zu stellenist, muss Werther Wahlheim verlassen, er begibt sich in diplomatischen Dienst, kommt mit seinem Vorgesetzten wie überhaupt mit den gesellschaftlichen Regeln nicht mehr zurecht und kehrt zurück. Die Situation eskaliert. Er erschießt sich am 22. Dezember 1772 und stirbt am Tag danach. Weihnachten erlebt er nicht mehr, und kein Geistlicher, wie der berühmte letzte Satz des Romans lautet, hat ihn begleitet.
    Neu im
Werther
ist die Absolutsetzung des eigenen Ichs, das die Natur nicht mehr als Gegenüber, sondern lediglich als Entfaltungs- und Reflexionsraum erfahren kann. Am 22. Mai schreibt Werther: «Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!» Jede Form der Naturaneignung, insbesondere durch Kunst, wird daher überflüssig, jede Form von gesellschaftlicher Vermittlung zwischen dem Ich und den anderen wird zum Störfaktor. Dieser Selbstfindungsprozess ist allerdings in erster Linie ein Selbsterfindungsprozess. Und Goethe liefert mit seiner eingängigen und spannenden Geschichte, die man so empathisch lesen kann, zugleich das Modell der Entstehung moderner Subjektivität. Das ist die epochale Revolution, die sich in diesem Briefroman abzeichnet: Hier wird ein neues Menschenbild entworfen, das auf einem neuen Verständnis von Subjektivität beruht.
    Doch steckt in dieser Konzeption ein Problem: Derjenige, der sich als Subjekt begreift, ist zugleich derjenige, der als Subjekt begriffen wird. Ein Kurzschluss, und sehr schnell wird im Roman deutlich, dass es nicht ausreicht, sich selbst als Subjekt anzuerkennen, dass man einen anderen Menschen braucht, den man anerkennen kann, auf dass dieser einen selbst als Subjekt anerkennt. Bei Goethe hat diese Konzeption einen Namen: Liebe. In der Liebe erfährt Werther die Hoffnung auf diese Anerkennung – und muss enttäuscht werden. Der Selbstmord Werthers, das Scheitern seiner absoluten Subjektivität, erscheint daher fast als Bedingung dafür, literarisch ein solches Konzept ausprobieren zu können. Dass der Leser dennoch eine – durchaus objektive – Geschichte zu lesen bekommt, liegt an der genialen Erzählweise Goethes, dem es gelingt, die Unvermittelbarkeit absoluter Subjektivität eben
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