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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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I
    Als der Krieg ausbrach, befand sich Ginster, ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann, in der Landeshauptstadt M. Er hatte hier nach bestandenem Doktorexamen vor einer Woche eine Stellung angetreten. Der Doktor wäre überflüssig gewesen, aber Ginster liebte die mit einem Examen verbundene Spannung und wollte im Bewußtsein, den Titel rechtlich erworben zu haben, später gleichsam inkognito ohne ihn leben. Die Stadt M. war Ginster zu einer Art von Gewohnheit geworden, über vier Jahre hatte er in ihr zugebracht. Eigentlich hieß er gar nicht Ginster, der Name war ihm aus der Schule geblieben.
    Auf dem Hauptplatz stauten sich die Massen, es war heiß, blauer Himmel. Alle warteten, Ginster wußte nicht worauf, er hatte ins Freie fahren wollen, weniger der Natur wegen, als um in ihr gewesen zu sein, wenn er abends im Café saß. Der trägen Hitze mochte am ehesten das Café in der Vorstadt entsprechen. Vor Jahresfrist, als Ginster es zum erstenmal aufgesucht hatte, war er vom Kellner aus einer Sofaecke mit der Bemerkung vertrieben worden, daß hier der Schachklub tage. Seit jener Zeit bevorzugte Ginster das Café, ohne den Schachklub je anzutreffen. Es befriedigte Ginster, daß der Kellner einem Klub die Treue hielt, der niemals kam.
    Die Masse stand reglos auf dem Platz. Der helle Nachmittag lud dazu ein, auf ihren Köpfen spazieren zu gehen, die wie Asphalt glühten. Ginster wurde durch die Vorstellung erschreckt, daß das Kopfpflaster plötzlichauseinanderbrechen könnte. Tränen liefen ihm über die Backen. Große Massenaufgebote zwangen ihn so zum Weinen wie Kinostücke und Romane, an deren Ende zwei junge Menschen sich miteinander verbanden. Auch Menschenansammlungen schienen ihm eine Bürgschaft des Glücks. Einmal war es in der länglichen Gestalt des Zeppelin am Horizont aufgetaucht, und über den allgemeinen Jubel hatte er schluchzen müssen. Bei Tragödien brachte er es nicht zu einer einzigen Träne.
    Ein Tosen begann, das Pflaster zerfloß, Telegrammtexte liefen um. Ginster bewunderte die Technik, alles teilt sich heute so schnell mit. Der Krieg war erklärt worden, die Gesichter trieften vor Schweiß. Hochs wurden ausgebracht; es trommelte. In der Nachmittagssonne leuchteten die Kirchenfassade, eine Hauswand und ein grünes Dach. Die Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Licht ermüdete Ginster. Bald freuen sie sich über das schöne Wetter, bald sind sie mit anderen Dingen beschäftigt.
    Von Kriegen hatte Ginster nur in der Schule gehört. Sie lagen weit zurück und waren mit Jahreszahlen versehen. Mehr als für Schlachten und Friedensschlüsse interessierte er sich für geistige Strömungen ohne Datum und das Volksleben. In der Mathematik fesselte ihn der Unendlichkeitsbegriff, was fangen die Asymptoten im Unendlichen an. Aber die Lehrer bestanden auf Kriegen. Unser oberster Kriegsherr – aus den Schulbüchern schlug das Wort in die Hitze und dröhnte über den Platz. Ginster war betäubt, der Lehrer erhob sich vor ihm. Ich verstehe nichts von Kriegen, schrie er in seiner Ohnmacht den Lehrer an, lassen Sie mich doch fort. Als er vor Jahren sich in Berlin aufgehalten hatte, war er abends oft auf den Bahnhof Friedrichstraße gegangen, immer zu einer bestimmten Stunde, wenn die großen Schnellzüge nachdem Osten abfuhren. Berlin-Myslowitz stand auf den Schildern geschrieben. Kleine graue Männer und Weiber mit Tuchballen besetzten die Holzbänke, die Lichter in den Wagen brannten trüb. Myslowitz gab es nicht. Mochte Ginster noch so traurig gewesen sein – wenn der Zug entschwand, wußte er sich geborgen, schlenderte über die Friedrichstraße und las dann die Zeitung. Statt des abscheulichen Zuges stand einmal ein blitzblanker weißer in der Halle. Die kleinen Leute waren von den Bahnsteigen weggefegt. In dem erleuchteten Mittelwagen tafelte, von Militärs umgeben, ein Mann in Galauniform. Er lachte und hob das Glas, eine glänzende Luftspiegelung, die sich lang im Dunkel erhielt. Ginster selbst fuhr immer dritter Klasse. Die Galauniform im weißen Zug machte jetzt Krieg.
    In dem Menschenstrom wurde Ginster mitgeschleift. Herren mit dicken Schlipsen, Studenten und Arbeiter sprachen sich an. Unsere Armeen, sagten sie. Wir sind überfallen worden, wir werden es den andern schon zeigen. Sie waren auf einmal ein Volk. Ginster dachte an Wilhelm Tell, das Wir wollte ihm nicht über die Lippen. Die Sonne war weg, eine Frau trug eilig ihr Kind. Der Junge schrie. Dicke Schlipse konnte Ginster nicht leiden,
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