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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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Stadt weniger als von anderen Städten, die er nicht kannte.
    Als kleiner Junge stand er einmal auf der Plattform einer Straßenbahn und pfiff. Er trug eine Matrosenjacke mit einem breiten weißen Kragen und eine Mütze, auf der Hertha stand. Vergnügt pfiff er vor sich hin, die Beine etwas krumm. Seine Strümpfe fielen, der eine Schnürriemen war aufgegangen. Kein Mensch befand sich sonst auf der Plattform. In dem Wagen saßen gewiß einige Leute, aber sie konnten das Pfeifen nicht hören. Ginster bemerkte gar nicht, daß er pfiff, er dachte, daß ein schöner Tag sei und er später Trambahnschaffner werden wolle. Eine Stimme schreckte ihn auf, die ihm das Pfeifen verwies. Er stände auf einer Plattform, die Plattform sei öffentlich, und gepfiffen dürfe nicht werden. Ginster sah blinkende Uniformknöpfe und darüber das Schaffnergesicht. Was daraus werden solle, wenn alle pfiffen? Ginster schob die Strümpfe herauf und band den Schnürriemen zu; der Schnürriemen mußte durch ein unrechtmäßiges Löchelchen im Stiefel gezogen werden, weil ein Haken abgegangen war. Pfeifen könne er zu Hause, aber nicht auf der Plattform. In den Uniformknöpfen spiegelte sich sein Gesicht; achtmal konnte er winzig klein Hertha erkennen. Wer ihn denn erzogen habe? Er müsse doch wissen, daß hier eine Plattform sei. Bei der nächsten Haltestelle stieg Ginster aus, obwohl er noch nicht am Ziel war. Zu Hause verschwieg er das Erlebnis. Tagelang pfiff er nicht mehr.
    In der Schule erteilte Ginster eine Zeit lang seinen Mitschülern heimlich Zensuren. Er hatte sich ein Notizbüchlein angelegt, in das er die Namen eintrug und senkrechte Striche zog für die Noten. Solche Einteilungen zu machen, war ihm so sehr Bedürfnis, daß er lieber ein Büchelchen mit blankem Papier kaufte statt eines mit Karos. Die Schüler ahnten nicht, daß ihr Verhalten zu Ginster einem besonderen Gericht unterstand. Sie waren unbefangen genug, um die rohen Ziffern, die der Lehrer ihnen ins Zeugnis schrieb, als den Maßstab ihres Betragens anzuerkennen. Aber unter ihnen lebte einer, der sie unterirdisch erforschte: Ginster. Er wunderte sich manchmal, daß sie so heiter in dem Schulhof herumspringen konnten, während er gerade die Quersumme ihres Benehmens addierte. Das Urteil über sie wurde durch kleine Begebenheiten bestimmt, von denen sie selbst nichts wußten. Wenn zum Beispiel Rudolf Hasselhorst, einerder Klassenanführer, bei einer Beratung Ginster erst als letzten befragte und zu reden fortfuhr, ehe die Antwort noch vorlag, so gewann dieser Vorfall dadurch an Bedeutung, daß Hasselhorst neulich auf der Straße mit einem Kameraden an Ginster vorbeigegangen war, ohne ihn um seine Begleitung zu bitten. Die beiden Ereignisse ergaben zusammen ein eindeutiges Bild. Damals war Ginster in einen sommersprossigen Mitschüler namens Neuburger verliebt. Neuburger hatte eine schöne Stimme und sang im Schülerchor mit; also beschloß auch Ginster, am Gesangsunterricht teilzunehmen. Er war bisher vom Singen dispensiert gewesen. Mutter und Tante begriffen nicht, warum er freiwillig eine Stunde aufsuchte, von der sein Organ ihn entband. Neuburger hätte es verstehen sollen; aber Neuburger zeigte sich nur über seine falschen Töne verdrossen. Zudem beobachtete Ginster, daß er einen anderen Schüler, den er, Ginster, aus bestimmten Gründen ablehnen mußte, in der gleichen Weise anlachte wie ihn selbst. Mit der Peinlichkeit des verletzten Liebhabers trug er fortan Material über Neuburger in seinem Notizbüchlein zusammen. Nach und nach schliefen die Geheimberichte ein.
    Von früh auf zeichnete Ginster gern Ornamente. In seinen Schulheften schossen auf den unbeschriebenen Rändern Spiralensysteme in die Höhe, die sich nach oben verjüngten. Sie strahlten von einer senkrechten Mittellinie nach rechts und links aus, Blätter, die zu feinen Linien geworden waren und in sich verendeten. Als die Frage der Berufswahl nahe rückte, wußten alle Klassenkameraden, was sie werden wollten. Einer, der einmal in Hamburg gewesen war, hatte sich Schiffbauingenieur ausgesucht. Ein anderer dachte an Völkerkunde mit der Hoffnung auf eine spätere Habilitation; weil es viele Völker gebe unddas Fach schlecht besetzt sei. Ginster bewunderte seinen Weitblick. Die Fähigkeit, seinen Platz in der Gesellschaft mit solcher Umsicht vorauszubestimmen, ging ihm ab. Am liebsten wäre er gar nichts geworden, aber zu Hause bestanden sie auf einem Broterwerb. Jeder Mensch habe einen Beruf, und das
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