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Wer Blut vergießt

Wer Blut vergießt

Titel: Wer Blut vergießt
Autoren: Deborah Crombie
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Prolog
    … Der Name Denmark Street ist untrennbar mit Musik verbunden. Seit den 1920er-Jahren als »Tin Pan Alley von London« bekannt, war diese berühmte Straße in Soho schon immer ein Treffpunkt für Musiker, seit in den Tagen von Queen Victoria die ersten Notenhändler sich hier niederließen.
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    Es war Jahre her, dass sie zuletzt eine englische Kirche betreten hatte. Ob die Türen am frühen Abend dieses trostlosen Januartages wohl verschlossen sein würden? Einer plötzlichen Eingebung folgend wartete sie, bis sich eine Lücke im Verkehr auftat, überquerte mit raschen Schritten die Charing Cross Road und bog in die Denmark Street ein.
    Und dann blieb sie erneut stehen und starrte wie hypnotisiert in die Schaufenster der Geschäfte, deren Auslagen hell erleuchtet waren, obwohl sie bereits geschlossen hatten. Wie hatte sie das vergessen können? Das hier war die Straße der Gitarren. Die Instrumente mit ihren elegant geschwungenen Formen und glänzenden Lackierungen schienen sie magisch anzuziehen.
    Sie ging weiter, langsamer nun, vorbei am ersten Geschäft, am zweiten. Die Farben sprangen sie regelrecht an – Scharlachrot, Türkis, Honiggelb, Mahagoni, helles Flachsgelb, und dann der harte Kontrast von Schwarz und Weiß.
    Es lag etwas Verlockendes darin – nicht nur in der Schönheit der Instrumente, sondern auch in ihrer Unerreichbarkeit. Eine Verheißung, eingeschlossen hinter Glas. Viele der Gitarren waren mit handgeschriebenen Karten versehen, die über ihre Herkunft informierten. Die Vorstellung, dass Gitarren genau wie Menschen ihre Geschichte hatten, gefiel ihr.
    Als sie zum nächsten Laden weiterging, wurde ihr Blick nicht von den Gitarren angezogen, sondern von den Plakaten, die in den Fenstern eines schäbigen Clubs hingen – des 12 Bar Club , wie das Schild über dem Eingang verriet.
    Der 12 Bar Club – jetzt erkannte sie ihn wieder. Den Laden gab es schon seit vielen Jahren; als Teenager hatte sie ein- oder zweimal den langen Weg von Hampstead hierher auf sich genommen, und damals war ihr der Club so erwachsen vorgekommen, so mondän. Natürlich total verraucht seinerzeit, aber das hatte sie nicht gestört. Jeder Gitarrist, der diesen Namen verdiente, war in diesem winzigen, schmuddeligen Club aufgetreten, und die Mädchen hatte die Aussicht angelockt, vielleicht einmal einen Blick auf einen Star zu erhaschen.
    Wieder betrachtete sie die Flyer, die im Fenster klebten. Der Name einer Band entlockte ihr ein Lächeln – aber dann stockte ihr der Atem, und sie sah sich das körnige Schwarzweißfoto unter dem Bandnamen genauer an.
    Dieses Gesicht … Der Schock fuhr ihr in die Glieder. War das denn möglich? Nach so langer Zeit? Gewiss nicht, aber … Ihre Fingerspitze hinterließ eine Spur auf dem kalten Glas, als sie die Namen der Bandmitglieder las.
    Ihr Blick trübte sich. Sie blinzelte, bis sie wieder klar sehen konnte, doch der Name war immer noch derselbe. »Du lieber Gott«, hauchte sie, und die Vergangenheit brach über sie herein wie eine gewaltige Flutwelle.

1
    Crystal Palace ist ein Bezirk von Süd-London zwischen Dulwich, Croydon und Brixton. Der Name ist mit vielen verschiedenen Dingen in Verbindung gebracht worden. Geprägt wurde die Bezeichnung »Crystal Palace« von der Zeitschrift Punch für das Gebäude der Großen Weltausstellung von 1851 – eine Konstruktion aus Eisen und Glas, entworfen von Joseph Paxton, die 1854 im Crystal Palace Park neu errichtet und am 30. November 1936 durch einen Brand zerstört wurde.
    www.crystalpalace.co.uk
    Crystal Palace, August, fünfzehn Jahre zuvor
    Er saß auf den Stufen vor der Eingangstür des Hauses in der Woodland Road und zählte die Geldscheine, die er in der Keksdose aufbewahrte – alles, was vom Lohn seiner Mutter übrig war. Mit gerunzelter Stirn zählte er noch einmal nach. Es fehlten zehn Pfund. Oh, verdammt. Sie hatte das neue Versteck gefunden und es geplündert. Schon wieder.
    Er blinzelte, als ihm plötzlich die Tränen in die Augen schossen, und rieb sich mit dem Handrücken die Nase, während er gegen die Panik ankämpfte, die sich in seiner Magengrube ausbreitete.
    Nicht nur Panik, auch Hunger. Es war erst Mittwoch, und den nächsten Lohn bekam sie erst am Samstag. Wie sollte er sie beide von dem bisschen Geld, das noch übrig war, bis dahin ernähren? Dabei rührte seine Mum die Eier mit Toast, die er ihr morgens zum Frühstück machte, sowieso kaum an. Und wenn sie einmal im Pub angefangen hatte,
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