Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Postkarten

Titel: Postkarten
Autoren: Annie Proulx
Vom Netzwerk:
1
    Blood

    Noch bevor er aufstand, wußte er, daß er unterwegs war. Sogar mitten in den unwillkürlichen Zuckungen des Orgasmus wußte er es. Wußte, daß sie tot war, wußte, daß er unterwegs war. Auch als er mit zitternden Beinen dastand und die Kupferknöpfe in die steifen Knopflöcher zu stecken versuchte, wußte er, daß er alles, was er jemals getan oder gedacht hatte, von vorn anfangen mußte. Selbst wenn er davonkommen sollte.
    Er rang nach Luft, stand hechelnd und keuchend auf seinen wackligen Beinen. Als wäre er schwer gestürzt. Benommen. Er spürte, wie das Blut in seiner Kehle hämmerte. Sonst nichts, nur das Ringen nach Luft und eine ungewohnte Sehschärfe. Wie verschüttetes Wasser ergoß sich Wacholdergestrüpp über die Wiese; Eschenahorn bedeckte die Steinmauer, die hie und da zwischen den Bäumen hervorlugte.
    Er hatte an die Mauer gedacht, als er hinter Billy den Hügel hinaufgegangen war, ganz normal daran gedacht, daran, sie bei Gelegenheit zu reparieren, die Steine wieder einzusetzen, die der Frost und wuchernde Wurzeln herausgebrochen hatten. Jetzt sah er sie wie eine mit kräftigen Tintenstrichen gezeichnete Skizze - das von zittrigen Quarzfäden durchschossene Gestein, die wie Schultern aus dem Humus ragenden Mooshöcker, das schwarze Pockholz unter verfaulter Rinde, den silbrigen Schimmer toten Holzes.
    Aus der Mauer ragte ein Steinblock von Größe und Form eines Autorücksitzes; darunter befand sich eine Erdnarbe, die den Eingang zu einem leeren Fuchsbau bezeichnete. Herrgott, es war nicht seine Schuld, aber das würde man denken. Er packte Billy an den Fußknöcheln und schleifte sie zur Mauer. Er rollte sie unter dem Felsbrocken zusammen, konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Ihr Körper hatte bereits etwas Wächsernes. Das Material ihrer zusammengeschobenen Strümpfe und ihre Nägel hatten den kalten, harten Glanz, den frisch Verstorbene haben, bevor die Flammen sie verzehren oder das Wasser sie unaufhaltsam in die Tiefe zieht. Unter dem Stein befand sich ein Hohlraum. Ihr Arm fiel nach außen, mit schlaffer Hand, die Finger nach innen gekrümmt, als hielte sie einen Spiegel oder ein Fähnchen zum Nationalfeiertag.
    Instinktiv setzte er den verebbenden Schock in Handeln um, seine Reaktion auf alles, was er nicht verstehen wollte: hartnäckiges Zahnweh, rauhes Wetter, das Gefühl von Einsamkeit. Er schichtete die Mauer über ihr wieder auf, paßte die Steine ein, ahmte das unordentliche Verrutschen und Abbröckeln des Gesteins nach. Ein unbewußter Reflex leitete ihn. Als sie unter der Mauer verborgen war, warf er welkes Laub, Zweige und Gestrüpp obendrauf, verwischte mit einem Ast die Schleifspuren und den zertrampelten Boden.
    Die Felder hinunter, am Zaun entlang, aber manchmal auf offenes Feld stolpernd. Kein Gefühl in den Beinen. Die Sonne ging unter, der Oktobernachmittag stürzte in den Abend. Die Zaunpfähle an den Feldrainen gleißten wie Nadeln, das dichte Licht überzog sein Gesicht mit einer kupfernen Maske.
    Um seine Knie brandete Gras; die roten Grannen waren aufgeplatzt, hagelten Samen. Weit unten sah er das Haus, von orangerotem Licht gefirnißt, das sich vom Pappelhain wie ein in Metall gestochenes Bild abhob. Das durchhängende Dach verlor sich in Schatten, so zart wie Mehltau auf Bäumen.
    Im Obstgarten kniete er nieder und wischte sich am rauhen Gras immer wieder die Hände ab. Die Bäume waren halb verwildert vor wuchernden Trieben und totem Holz. Der schwermütige Geruch fauligen Obstes drang ihm in die Nase. »Wenn ich davonkomme«, sagte er, sog Luft durch seine zugeschnürte Kehle und sah einen Moment lang nicht etwa, was oben an der Mauer passiert war, sondern wie sein Großvater den Baum mit Bordelaiser Brühe besprühte, wie der lange Stab im Laub zischte, die vergifteten Apfelwickler wie Flammen aufplatzten, wie die Frauen und Kinder und er selbst auf der Leiter Äpfel pflückten, während der Riemen des Korbs ihm in die Schulter schnitt, die leeren Eichenspankörbe unter den Bäumen und die Männer, die die vollen Körbe auf einen Wagen luden, den kalten Packraum, den alten Roseboy mit seinem krummen, nackten Hals und seinem schmutzigen Hut, spitz wie ein Kegel, nichts anderes als ein zurechtgeflickter ausgemusterter Sirupfilter, den alten Roseboy, der voller Ernst auf die Faßdeckel klopfte und immer wieder sagte: »Immer sachte jetzt, ein fauler Apfel verdirbt das ganze Faß.«
    Von den Baumhängen stieg Abenddunst auf und verschleierte den Himmel, der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher