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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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steckten, statt schöne Kleider vorzuführen. Die Modellpuppen benutzten sich gegenseitig, während die Frau am Fenster einen mürrischen Walzer spielte, der sich den Beinen anpaßte, die sich ihm fügen sollten. Elli übte für Gustav, und Paula schwatzte von den Redouten, auf denen sie ihre Tanzkunst anzuwenden gedachte. In den Pausen lehnte Ginster, ein verwaistes Zweckinstrument, an der Schmalwand des Sälchens.
    Bei dem Fest einer Künstlervereinigung erschien er in einem schwarzen Trikot, dem drei grüne Kreise aufgestickt waren, die sich gerade berührten. Die Frau eines Bekannten hatte ihm das Kostüm genäht. Sie war aus Geschmacksgründen der Ansicht gewesen, daß die Kreise ineinander gehen müßten, aber Ginster fand ihre Berührung fast schon zu viel. Von dem Augenblick an, in dem er den Trikot trug, kam er sich ausquartiert vor; als sei ihm die Wohnung gekündigt. Auch in dem Trikot war er nicht aufzufinden. Er hatte, um dem Fest nicht schutzlos preisgegeben zu sein, jenen Bekannten abgeholt und von seiner Frau sich zum letztenmal begutachten lassen. Auf den Straßen lag Schnee; in den Cafés saßen Menschen, die sich ihrer Freiheit erfreuten. Als sie den Saal betraten, suchte er den Bekannten, der bereits ein fertiger Architekt war, in ein Gespräch über Backsteinbauten zu verwickeln. Backsteine seien ihrer Farbe wegen für Winterlandschaften geeignet. Der Bekannte hörte nicht hin, sondern faßte eine maskierte Dame unter und verschwand. Eheauch seine Frau sich für immer entfernte, rief sie Ginster zu, er solle sich amüsieren. Ginster dachte zu spät daran, daß er mit ihr hätte tanzen können. Der Besuch eines Ballsaals hatte offenbar den Abbruch jahrelanger Beziehungen zur Folge: soeben unterhielt er sich noch mit den Leuten, nun überließen sie ihn einfach sich selber. Von der Decke wedelten Lappen über Malereien herab, die im Vorübertanzen vermutlich zu Bildern wurden. Im Nebenraum fiel er über einen Boden, der aus Leibern bestand. Stühle wagte er nicht zu benutzen, weil sie jederzeit von Paaren gebraucht werden konnten. Die Paare hatten ein höheres Anrecht auf Stühle. Sie kannten sich alle und waren so unzertrennlich verbunden, daß er nirgends eine Lücke entdeckte. Er mußte den Tanzenden zusehen und wollte es nicht; denn Musik und Lärm zerstückten die menschliche Masse zu Gliedern und Teilen, die besser weggeräumt worden wären. Augen verließen ihr Gesicht, offene Münder schlossen sich nicht mehr, und über roten Schminklachen flogen Haarbüschel auf. Sich einmal ganz gehen zu lassen, hatte die Frau des Bekannten gesagt, nur nicht immer die ernsten Gespräche. Fanden überhaupt solche Gespräche statt, so war sie gewöhnlich gekränkt, daß man sie eine Minute vergaß. Jetzt ließ sie sich auf dem Schoß eines Jünglings gehen; die Ehe war glücklich. Es gab häßliche Mädchen im Saal, die ohne Verwendung blieben. Ein kleines mit einer Stupsnase streifte umher, als ob sie ihren Partner suchte, aber kein Partner ließ sich erblicken. Ginster beutete ihre Notlage aus, um die erlernten Schritte zu proben. Da man in der Tanzstunde unter künstlichen Bedingungen experimentiert hatte, versagten im wirklichen Raum alle Regeln. Er glaubte auch nicht, daß Versuche an Ratten für die Menschen Gültigkeit hätten. Unter ihm dampfte mit seligen Backendas Mädchen. Ein weißes Krümelchen, das in ihrer Frisur hängen geblieben war, drehte sich mit. Es sei herrlich, sagte das Mädchen, ein solches Fest, und sie habe schon den ganzen Abend getanzt. Wie sie meine, daß er sich bewege, fragte Ginster, der bei ihr heimlich Nachhilfeunterricht nahm. Also, es muß noch ungezwungener werden, aber das kommt schon von selbst bei den vielen Festen, man ist nur einmal jung, und alle die Menschen. Sie nahm ihn beim Arm und schielte mit ihrer Stupsnase schräg zu ihm hin. Die Vorstellung, daß er in einem Café mitgebrachte Butterbrote verzehre und sich unbemerkt der Einwickelpapiere entledigen müsse, drängte sich ihm immer deutlicher auf. Zuletzt legte er die Person ab und stahl sich davon.
    »Nun, so allein –«. Ein Mädchen in Grau setzte sich zu Ginster auf die Treppe. Sie war als Fledermaus gekleidet und hatte leicht vorstehende Zähne. Von Schönheit verstand Ginster nichts; wahrscheinlich war sie trotz ihrer angenehmen Züge nicht eigentlich schön. Es beglückte ihn, daß sich ein so freundliches Mädchen von selbst zu ihm begab. Er hatte schon oft junge Leute beobachtet, um dem Verfahren
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