Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
ihr in einem Augenblick zusammengeknülltes Leben entfaltete sich vor ihmwie ein Wundertuch, und er ermaß, wie ausgestoßen sie war. Grau, jung, rosig, uralt. »Ich schreibe dir – – später – – mein Lieber.« Er nickte nur. Ging.
    Der Platz bei der Hauptpost glich der verfinsterten Sonne. Eine schwarze Riesenscheibe, an deren äußerstem Rand das Licht der Canebière sprühte. Ginster hielt auf die schmale Glut in der Ferne zu, vielleicht war die ganze Nachtfläche von unten belichtet. Sie war ein Zufallsplatz, der durch Abbrüche immer leerer wurde. Tagsüber bot er kein Bild wie andere Plätze, sondern dehnte sich zwischen unbekannten Bildern, die ihm den Rücken zukehrten. So oft Ginster das Nichts überquerte, gruselte es ihn. Die Canebière brauste, halb elf, er löffelte ein dreifach geschichtetes Eis. Während er die kühle Bastion niederlegte, sah er für die Dauer einer Sekunde Frau van C. hinter dem finsteren Platz stehen. Unendlich klein war sie geworden, ein erleuchtetes Püppchen, das plötzlich verlosch. Nun fand er sich in der Helle vor dem Café. Sie strahlte nicht aus, sie hüllte ihn ein, und wie ein Goldfisch durchschwamm er nach allen Seiten ihren glänzenden Fluß. Noch glitt er dahin, als sich vor seinen Augen ein Riff erhob – eine schwarz gekleidete Alte, die einer Reiterin gleich einen Jockeihut trug. Das Straßenpublikum umspülte sie. Da sie gegenüber der vordersten Tischreihe verweilte, hatte Ginster Zeit, ihr Gesicht zu betrachten. Es war eine schneeweiß gepuderte Larve, die aus dem Grab geholt zu sein schien. Berührte man die Wangen, so zerfielen sie sicher in Staub. Ginster zahlte, trat näher. Er kam gerade hinzu, wie sie sich einem Matrosen anbot. Nicht daß sie ihn mit deutlichen Worten aufforderte, aber sie grinste ihn an. Jedenfalls konnte der weit geöffnete, zahnlose Mund nur ein Grinsen bedeuten. Wie ein gewaltiger Krater lag er in der weißen Totenlandschaft ihres Gesichts. Die Kellner lachten, einer schickte sie fort. Sie wandte sich in die Richtung des Alten Hafens, Ginster folgte ihr nach. Mit tänzelnden Schrittchen bewegte sie sich, wirklich, sie tänzelte, eine Primaballerina, die Straße war ihr Parkett. Der Jockeihut wippte, und die Arme beschrieben fortwährend zierliche Bögen. Unterwegs blieb sie vor den Cafés stehen, verzögerte sich bei Burschen und Männern. Immer das Grinsen, der zahnlose Krater. An dem Plätzchen unweit des Hafenkais saß in einer Glaskabuse ein Polizist, der ihr etwas zurief. Offenbar kannte er sie. Sie drehte sich unwillig um und streckte ihm die Zunge heraus. Da bemerkte Ginster – er bemerkte, daß ihr Kleid mit Kriegerabzeichen geschmückt war. Auf der linken Brust hingen in einer Reihe nebeneinander farbige Bändchen, Medaillen, ein Kreuz. Sie wird im Hafenviertel verschwinden, nahm Ginster am Ende der Straße an. Die Orden stammten vermutlich von ihrem Mann, oder der Sohn war gefallen. Er wollte hinter ihr hergehen bis zuletzt, er mußte ergründen, wohin sie gehörte. Sie verschwand nicht im Hafenviertel. Sie kreuzte nur den Fahrdamm und begann auf der anderen Seite die Canebière wieder zurückzutänzeln. Hier, wo es stiller war, vernahm Ginster, daß sie unaufhörlich vor sich hinsang. Dem Singsang fehlten die Worte; ein Gemurmel mehr als ein Singen. Die rotbraune Markise war hochgezogen. Manchmal nickte die Alte kokett für sich allein, als erbaue sie sich an eingebildeten Triumphen. Sie durchmaß die ganze Canebière und kehrte oben von neuem um. Zum Alten Hafen, über den Fahrdamm, hinan, hinab – mindestens anderthalb Stunden begleitete Ginster sie. Die Cafés hatten sich mittlerweile geleert, schon wurden im Innern die Stühle zusammengerückt. Ginster erinnerte sich, gleich nach seiner Ankunftdie Straße in der ersten Morgendämmerung aufgesucht zu haben. Damals war sie kaum bevölkert gewesen und hatte unansehnlich gewirkt. Gegen Mittag war sie dann freilich zur Welt geworden. Die Alte kümmerte sich nicht um das Schwinden der Menschen. Tagaus, tagein würde sie auf und ab wandern mit den Kriegermedaillen auf der Brust. Ich gehe jetzt, sagte Ginster zu sich; morgen – er stolperte, verspürte am Arm einen Stich. Das Vögelchen, die Stange des Vögelchens. Er drehte den Ring.

EDITORISCHE NOTIZ
    Im Nachlaß Siegfried Kracauers hat sich zu Ginster kein Manuskript oder Typoskript erhalten. Die vorliegende Ausgabe richtet sich nach der Textfassung des 2004 erschienenen Bandes 7, Romane und Erzählungen , der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher