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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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der Hunger, die Streiks, der Irrsinn und die Billionen. Ginster bemühte sich, die Ereignisse auseinander zu halten, man verwechselte sie von rückwärts so leicht. Der Krieg war ihm längst zu einer grauen Masse verschwommen. Das Gesicht von Frau van C. fuhr ab und zu über die Vergangenheit und fegte sie weg. Wenn er sich richtig besann – er wunderte sich, daß er überhaupt noch anwesend war. Wie ein Würmchen an die Oberfläche gekrochen. Der Blick des Kellners ruhte auf ihm.
    »Bei uns bekommen die Kellner kein Trinkgeld mehr«, antwortete er ungefragt dem Blick.
    »Eine schöne Revolution.«
    Das Gefieder rauschte; ganz bunt. Ginster schämte sich, weil er vergessen hatte, daß er in einer Zeit lebte.
    »Revolutionär waren die meisten Leute nur während der Revolution. Ich war es damals noch nicht. Ich glaubte nicht an die Revolution. Die vielen plötzlichen Aufrührer stießen mich ab. Ein Bildhauer, der im Krieg eine Menge von Heerführern modelliert hatte, wollte die ganze Gesellschaft wie eine Gipsbüste zertrümmern. Aber vielleicht wagte ich nur nicht, mich einmal im Stich zu lassen. Ich mußte ja auch in einem fort Geld verdienen, meine Mutter hat ihr bißchen Vermögen verloren … Heute meißelt der Bildhauer Fabrikanten aus. Sie fangen wieder an aufzubauen, wie sie sagen. Sie veranstalten Abendgesellschaften; sie leben … Fast sehne ich mir die letzten Jahre zurück.«
    Europa – Frau van C. beschwor Europa herauf. Ballte es mit der einen Hand zusammen, knetete es, bis es ein kleines Kügelchen wurde, und warf das Kügelchen fort. Gleichzeitig schüttelte sie ihr Handtäschchen ein paarmal so heftig, daß ihm eine unsichtbare Zuhörermenge entquoll. Sie überzeugte die Menge davon, daß der Kapitalismus mächtiger sei als je und das Proletariat von neuem geknechtet werde. Ihre Augen glühten begrifflich, man hatte sie selbst fortgeworfen. Wir müssen kämpfen, forderte sie und verwies Ginster die Mutlosigkeit. Er glaubte, in unendlicher Ferne ein Klatschen zu hören. Schlagworte schlagen, dachte er und duckte sich unwillkürlich. Dann ergriff er, Frau van C. nachahmend, ein wenig zaghaft das Wort Europa. Zuletzt schwangen beide die Knüppel. Rechtes Bein, linkes Bein, wie beim Marschieren.
    »Ich lerne Russisch«, sagte Frau van C., »ich möchte im September nach Rußland fahren.«
    »Ich möchte um keinen Preis länger Architekt bleiben«, sagte Ginster. Erloschen. »In drei Wochen ist mein Urlaub zu Ende … Am liebsten ginge ich hier unter … Ich weiß nicht, was ich anfangen soll …«
    Er konnte sich nicht ausdrücken, brach ab. Der Kellner stand im Innern des Restaurants hinter einem Tisch mit roten Langusten. Die Gäste waren immer vorhanden gewesen. In der Nachbarschaft glitzerte ein Varieté. Wiegefesselt, jede Bewegung verwehrt. Frau van C. unterdrückte ein leichtes Gähnen. Sie war etwas müde, die Anstrengung, morgen früh reiste sie weiter. Nach Paris, zu einer Besprechung. »Mein Freund …«, redete sie Ginster an. »Es war sehr schön heute, mein Freund …« Das Geländer angestarrt. »Ich bin noch nie Schlafwagen gefahren«, sagte er tonlos. Sie sah zu ihm hin; so zart ihre Wangen, ein Kindergesicht. Hundert Gesichter mochte sie haben. Auf dem Weg zum Hotel beneidete er Rußland. Warum riß er sich nicht los und fuhr ihr nach Rußland nach. Zu glauben wie sie, zu wirken. Daheim wohnten Tante und Mutter in ihren Zimmern. Sie reiste, reiste und ließ ihn allein übrig. Leer war morgen Marseille, ohne Erbarmen. Weg. Wohin.
    »Erzählen Sie mir von sich«, bat Frau van C., »aus Ihrer Kinderzeit.«
    »Ich weiß nichts. Ich erinnere mich nicht.«
    Das Hotel schien in der Nähe der Bahnhofstreppe zu liegen. Er preßte ihre Hand, sie tat das Täschchen rasch in die andre. Die Straße im Dunkel. Er umarmte sie, mit seinem ganzen Körper umarmte er sie. »Sie … du.« So lange blieb sie in seiner Umschlingung, daß er sich von ihr löste, aus Angst, sie möchte nicht bleiben. »Ich reise mit dir – nach Paris« – groß, kindisch behauptet. »Nicht folgen – bitte, nicht folgen.« Am Hoteleingang erblickten sie sich, zögerten, gingen weiter, kehrten um, standen beisammen. »Du mußt schlafen«, mahnte er sie. Er wußte: sie hätte sich nicht gesträubt, wenn er mit ihr gekommen wäre. Aber er spürte auch, daß sie sich ihm gar nicht geben wollte – jetzt nicht, nicht so. Zuviel hatte sie geliebt, um das Sichgeben noch als eine Gabe zu empfinden. Hellsichtig war er geworden,
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