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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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rührte von einem Motorrad her, das ihn in Furcht versetzte. Zwei Männer putzten es aus dem Morast heraus. Die Speichen blinkten, als begänne ein neuer Tag, dabei war die Sonne verschwunden. »Die Bäume«, rief Frau van C., »richtige Bäume.« Der Baumplatz war ein rechteckig ausgespartes Erinnerungsbildchen, mit seinen Wipfeln, die sich nicht regten. Ihr mattes Grün wurde von einer rosa Lärmwolke in die Vergangenheit gescheucht. Aus dem Spektakel lösten sich Weiber, Kerle, Glühbirnen, Kneipen, die ganze Freudengasse preßte sich Ginster und seiner Begleiterin auf den Leib, tastete nach ihnen, winkte, flüsterte, umgrölte sie, starrte sie an. Männer griffen sich zwischen die Schenkel; Beinpaare wichen auseinander; ein ovaler Knabe lächelte aus seinem Schal; Beutel hingen schlaff über eine kanariengelbe Jacke herab; Backfischzöpfe baumelten an einem Mädchen, das niemals ein Backfisch war. Ein Raum neben dem anderen öffnete sich nach der Straße zu, Käfige, die ein Bett, einen Stuhl, eine Spiegelscherbe, ein Waschbecken enthielten.Petroleumlampen brannten in ihnen, manche waren mit einer Affiche beklebt. Das Geplärr der Grammophonmelodien tapezierte ihre kahlen Wände süß und grell aus, umwogte die Glieder im Freien. Von einem Orchestrion entsandt, polterte ein Musiklastwagen durch die Luft, aus dem eine pockennarbige Person stürzte. Sie prallte auf Frau van C. und drohte sie mitzureißen. Frau van C. wand sich los.
    »Entsetzlich … nur fort.«
    Durch ein Seitensträßchen zum Hafen.
    »In Nizza baden die Kinder am Strand«, sagte Frau van C. »Welch ein Elend … Das Gewimmel, wie unter dem Mikroskop –«
    Mitten auf dem Kai blieb sie stehen und schauderte sich mit ihrem Handtäschchen aus. Sie war leer wie die Straßenräume geworden, und nur ihr sozialer Protest ragte noch einem Gerüst gleich in die Höhe. Der Hintergrund war eine Bühnendekoration aus Segeln.
    »Am zweiten Weihnachtsfeiertag vor einem Jahr«, fing Ginster an, »traf ich gegen Mittag in einer fremden Stadt ein. In D., Sie kennen sicher die Stadt. Dort sollte ich am nächsten Tag Pläne abholen oder hinbringen, solche Pläne für Architekten. Ich war absichtlich früher gereist, um mir die alten Kirchen und Museen in der Stadt anzusehen. Mein Vorsatz wurde durch den Regen vereitelt. Der Regen war mit Schnee vermengt, und es regnete auch eigentlich nicht, sondern es wehte Feuchtigkeit herunter, ein dünnes graues Gefissel, bei dem die Straßen besonders schön sind. Überdies gehe ich lieber um die Museen herum, man sieht von außen viel mehr. Nachdem ich in einer gläsernen Passage zu Mittag gegessen hatte, geriet ich aus Zufall in ein gewisses berüchtigtes Viertel. Halb drei ungefähr. So alt ich bin, es war das erste Mal, daßich ein derartiges Viertel mit dem Wunsch aufsuchte, es zu benutzen. Ich hatte mich, um ehrlich zu sein, über seine Lage vor der Fahrt bei einem Bekannten genau unterrichtet. In den paar Gassen drängten sich baufällige Häuser, aus deren Erdgeschoßfenstern mir lauter Mädchen zuwinkten. Wahrscheinlich waren sie des frühen Feiertags wegen noch unbeschäftigt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich gleich die Flucht ergriffen, so unbehaglich fühlte ich mich zwischen den Mädchen und Häuschen. Aber einmal mußte es sein, ich mochte nicht immer beiseite stehen, wenn die andern vom Leben sprachen. Zuletzt entschied ich mich für ein Fenster, vielmehr, ich blieb an einem beliebigen Mädchen hängen, weil ich nicht länger so unentschlossen durch dieselben Gassen schlendern konnte. Die Mädchen, die mich wiederholt hatten auftauchen sehen, lachten schon hinter mir her; obwohl ich mich nach meiner Überzeugung recht geübt umgeblickt hatte. In der Gaststube lungerte die Wirtin wie ein Fleischerhund herum, und ich wagte nicht, die vier Flaschen Bier zurückzuweisen, die sie mir vorsetzte. Das Mädchen hieß Emmi. Als ich mit ihr die Treppe hinaufstieg, stieg in mir selbst die Furcht auf, ausgeplündert zu werden. Dergleichen kommt in Geschichten vor. Zu meiner Beruhigung hatte Emmi ein richtiges Zimmer, das obendrein gut geheizt war. Sie nötigte mich, Pfefferminzlikör zu bestellen, und nannte dann ihren Preis, eine ziemlich bedeutende Summe, die sie nebst einem besonderen Trinkgeld im voraus verlangte. Mir war zumute, als löste ich ein Eisenbahnbillett nach einer entfernten Station. Wie ich mir heimlich ausrechnete, blieb mir für den folgenden Tag nicht mehr viel übrig, doch aus Verlegenheit
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