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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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können. Aber wenn die Tagediebe noch hundertmal Revolution machen, sie kriegen uns nicht. Ich sch … auf die Revolution; mit Verlaub. Wir werden es dem Gesindel besorgen. Hier oben bin ich, und für alle Zeiten bleibe ich oben.«
    Das Glas fiel aus dem Gebrüll; sprang entzwei. Gut, daß die Frau aus Eichenholz war. Ginster taumelte dreifach über die Ringstraße.
    Um Mitternacht stieg er in den Bummelzug. Die gewöhnliche Strecke war gesperrt, er mußte auf Umwegen fahren. Nicht geheizt, ohne Beleuchtung, Soldaten. Ich fahre nach Hause – nach Hause – nach – Hause – immer während das Rauschen und Knarren. Die Morgendämmerung wurde von den Soldaten zum Essen benutzt. Sie hielten lang an einer Höhenstation, von der aus sich liebliche Mitteltäler eröffneten. »Viele Soldaten«, erzählte einer, »haben nicht den regelrechten Heimtransport abgewartet, sondern sich auf die Wagendächer der überfüllten Züge gestellt. Einige sind an den Kurven heruntergeschleudert worden oder bei der Fahrt durch die Tunnels ums Leben gekommen.« – »Sie wollten rasch zu Hause sein«, meinte ein anderer. Die Vöglein im Walde – jetzt wurde nicht mehr gesungen wie vor vier Jahren. In die Mäntel gehüllt, schwiegen sie jetzt. Ginster fing lieber garnicht von der Revolution an und verzichtete auch darauf, sich nach den voraussichtlichen Ankunftszeiten zu erkundigen. »Ich bin kurze Zeit beim Militär gewesen«, sagte er gegen Mittag. An einem winzigen Örtchen stieg ein Soldat mit seinem Tornister aus. Der wäre wieder gefangen, ging es Ginster durch den Kopf. Hätte er Kameraden gehabt, er hätte sich niemals von ihnen trennen mögen. Als Schulknabe war es ihm schmerzlich gewesen, sich vor der Haustür von den anderen Jungen zu verabschieden und oben in der elterlichen Wohnung allein zu versinken. Zwei Stunden Aufenthalt in einem größeren Wartesaal. Geht noch ein Zug nach F.? Nein. Ja. Er rollte in die Nacht hinein. Da er spät eintraf, nahm er sich ein Zimmer im Hotel, vielleicht schliefen Mutter und Tante schon. Sie anzurufen, konnte er sich nicht versagen. »Ich bin hier, im Hotel.« – »Komme gleich morgen früh, die Revolution …« Die alten Stimmen. So schön, ein richtiges Hotel, es tat ihm leid, daß er von morgen ab wieder privat schlafen sollte. Was kommt jetzt für ein Krieg, grübelte er im Bett. Er weinte vor Müdigkeit über den toten Onkel, über sich, über die Länder und Menschen.

XI
    Vor den Cafétischen hielt eine Frau künstliche Vögelchen feil. Ginster durchquerte die Schreie der Zeitungsverkäufer und kaufte eines der Vögelchen. Ein Franc, für Kinder, so hübsch. Das Vögelchen schwebte wie ein kleiner gelber Saturn in einem Blechring, der es weiter nicht störte. Wurde aber der Ring gedreht – er ließ sich einem Kreisel gleich um die Stange drehen, an der auch das Vögelchen befestigt war – so verwandelte er sich in eine Glaskugel, und die Glaskugel schloß das Vögelchen ein. Sie war an den beiden Polen abgeplattet und besaß richtige Glanzlichter, die den Häftling umzitterten. Mochte er sein rotes Schnäbelchen noch so sehr aufreißen, durch die gläserne Lufthülle drang kein Laut. Erst wenn die Bewegung des Rings sich verlangsamte, zerrann allmählich der Käfig, und das Vögelchen trat wieder an die Außenwelt. Man konnte in einem fort Ringwirbel erzeugen. Nur wußte Ginster nicht recht: war das Vögelchen in Wirklichkeit frei oder gefangen. Er hatte gerade zu Mittag gegessen und erblickte jetzt von dem Stuhl aus, auf dem er im Café Riche angebracht war, die Canebière hinter Luftkugelwänden und einem Schleier aus Stimmen. Ab und zu drehte er den Ring, die Hitze löste ihn auf. Gewiß saß er noch an seinem Platz, aber zu gleicher Zeit war er ein Eselskarren, der Eisbomben enthielt; die rotbraune Fläche einer Markise; ein lächelnder Inder; das Dämchen, das wie ein Knallbonbon zwischen den Taxis blitzte. Eigentlich waren die Frauen hier eher üppig. Die Armeeines Mulatten schlenkerten, als ob sie nicht zu seinem Körper gehörten, überhaupt streiften lauter einzelne Teile umher. Strohhut, Zähne und Taschentuchzipfel ergaben einen fertigen Neger, der Mohammedaner dort bestand aus Vollbart und Gummimantel. Ein Busen, der rote Fez eines Kolonialsoldaten, Aufschriften, die Weste, der Turban, das Steuerrad, Blumen – Ginster hatte den Eindruck, daß die Teile ununterbrochen durcheinander geschüttelt wurden und neue Verbindungen eingingen, die wieder zerfielen. Wie die
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