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Tal der Tausend Nebel

Tal der Tausend Nebel

Titel: Tal der Tausend Nebel
Autoren: Noemi Jordan
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Prolog
    Côte d’Azur, Septembervollmond 2010

    In der Stille, verborgen unter der Meeresoberfläche, berührte Maja zum ersten Mal Keanus Haut. Sie fühlte sich anders an als ihre eigene. Maja war nur zu einem Teil Polynesierin. Der Rest von ihr war deutsch. In Keanus Augen war sie eine Haole, wie die Hawaiianer die Weißen nannten. Aber ihre mandelförmigen Augen und ihr dunkles schweres Haar erinnerten an ihre Ahnen aus der Südsee.
    Mahalo und Aloha waren die einzigen Worte, die Maja in der Inselsprache beherrschte. Mahalo hieß danke. Aloha war eine ganze Philosophie. Einfacher Gruß, aber ebenso tiefes Wissen um die Ausgewogenheit aller Lebensenergien im Geben und Nehmen.
    Jetzt fror Maja erbärmlich im nächtlich kalten Wasser der Côte d’Azur. Keanu schien die Kälte nichts auszumachen. Er schmiegte sich unter Wasser an sie. Seine goldbraune Haut glühte vor Leidenschaft. Seine Hand ermutigte die ihre. Forschend ertastete sie im Wasser seine muskulösen Schultern, das Grübchen unter seinem Schlüsselbein. Sie konnte fühlen, wie ihre Berührungen ihn erregten. Aber Sex war es nicht, was sie von ihm wollte, noch nicht. Bibbernd vor Kälte legte sie ihre Hand auf den Haifischzahn, den er an einem Lederband um den Hals trug.
    »Erzähl mir von der Haifischfrau.«
    Seine Augen strahlten wie eine fremde Sonne, als er ihr von dem Riff erzählte, an dem seine Vorfahren lebten. Ein riesiger Hai war das Oberhaupt seiner Sippe. Den Haifischzahn gaben die Männer seiner Familie seit Generationen weiter. Kraft und Mut verlieh er dem Mann, der einst Anführer werden sollte. Mit einem Lächeln löste Keanu den Knoten um seinen Hals und legte Maja den Haifischzahn um. Er fühlte sich warm auf ihrer Haut an. Sie fror weniger und drehte sich auf den Rücken. Keanu folgte ihrem Beispiel. Mit klopfenden Herzen trieben sie nebeneinander im nächtlichen Meer. Sie wand ihr Gesicht dem Mondlicht zu, während er ihr von dem Riff in seiner Heimat erzählte, an dem die Mütter seit Jahrhunderten ihre Neugeborenen von den Haien segnen ließen. Das Plätschern der Wellen wurde zur Melodie, während Maja verzaubert seinen Worten über die hawaiische Insel Kauai lauschte.
    Die Küste mit Nizzas glitzernden Lichtern lag wie eine Kette Edelsteine in angenehm entfernter Distanz. Maja fühlte sich in den sanften Wellen frei und glücklich. Seit sie hier in Nizza das Lehrerseminar besuchte, im dem sie Keanu kennengelernt hatte, war München wunderbar weit weg, ebenso wie ihr Freund Stefan. Sie wollten eigentlich in wenigen Monaten heiraten, aber ihre Beziehung war im letzten Jahr viel Stress und Kampf gewesen. Wenn sie ehrlich war, hatte Maja in diesem Moment unter dem Sternenhimmel nur einen einzigen Wunsch. Sie wollte mit dem Schönen aus Kauai verschmelzen.
    Als würde Keanu ihre hungrigen Gedanken ahnen, griff er im Meer nach ihrer Hand. Fordernd begann er, an ihren salzigen Fingern zu saugen, bis sie seine Lust in jeder Pore ihrer Haut spüren konnte.
    »Komm mit mir zu den Ahnen!«, flüsterte er heiser. Dann zog er Maja mit sich in die Tiefe der lichtlosen Fluten.

1. Kapitel
    Hanalei Bay, Wintersonnenwende 1893

    Elisa Vogels Schicksal war anfangs ein kleiner brauner Punkt auf tanzenden Wellen. Die beiden Kanus mit den vier Eingeborenen näherten sich dem stolzen Dreimaster, auf dem die große junge Frau aus Hamburg stand. Die Haut der Männer glänzte goldbraun in der untergehenden Sonne. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Elisa die fremden Ruderer, die in Kürze herangekommen sein würden, um vom Schiff die Waren aus Deutschland zu holen, die für die Zuckerrohrplantage ihres Onkels auf Kauai bestimmt waren. Am nächsten Morgen würden die Männer dann ihre Mutter und sie selber ans Festland bringen.
    »Ob die Männer am ganzen Körper nackt sind? Vater hatte in seinen Zeichnungen der Eingeborenen immer ein Lendentuch angedeutet, aber ich kann keinen Stoff sehen.«
    »Aber Elisa, so etwas fragt eine junge Dame nicht!« Ihre Mutter warf ihr einen tadelnden Blick zu. Gleichgültig zuckte Elisa mit den Schultern. Zumindest aus der Ferne sah es so aus, als wären die Männer nackt. Auf den Südseeinseln, auf denen sie bisher Station gemacht hatten, trugen manche der Eingeborenen so gut wie gar nichts am Leib. Ihre Mutter tat aber selbst nach einem Jahr auf See immer noch, als müssten sie nach Hamburger Anstandsregeln leben. Dabei hatte ihr Vater erzählt, dass auch die europäischen Einwanderer auf den hawaiischen Inseln
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