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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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Schuhputzerladen, den ich gern aufsuche. Ich sitze hoch oben, während unten die Schuhe gereinigt werden, die mir später gehören. Die Putzer klatschen in ihre Bürsten, und immer andere Reisende kommen herein …«
    Eine Gesellschaft ließ sich unter dem benachbarten Sonnenschirm nieder. Die jungen Männer wiegten sich in den Hüften.
    »Ich bin geschieden«, sagte Frau van C.
    Ginster horchte befangen. Zwar hatte er noch manchmal an sie gedacht, aber stets wie an eine ihm nicht gegönnte Erscheinung. Wenn er sich recht entsann, war ihr Mann in Holland Minister. Sie sprach vor ihm von dem Mann, als sei er gestorben. Im Verlauf der Friedensverhandlungen habe er sich durch Schmeicheleien einfangen lassen und schließlich seinen Pakt mit den herrschenden Mächten geschlossen. »Ein Bourgeois ist er geworden. Ich konnte das Zusammenleben mit ihm nicht länger ertragen.« Wahrscheinlich hat sie ein Verhältnis mit Caspari gehabt, schoß es Ginster unabsichtlich durch den Kopf. Er verwandelte sich in einen Gegenstand, über den sie hinwegraste. Der Krieg hatte sie zu einer Revolutionärin gemacht. Ihr früheres Dasein war ausgelöscht. Sie hatte ein Buch geschrieben, das die bestehende Form der Ehe angriff. Sie reiste von Ort zu Ort. Das Buch hatte in radikalen Zeitungen begeisterte Kritiken erhalten. Sie verabscheute die Gesellschaft. Eine abgehärtete Volksfigur – Ginster nickte, zitterte, ihr Gefieder spreizte sich weit. Jauchzen hätte er mögen über den Haß. Mit einem Mal merkte er, daß sie auch aus Verlassenheit rauschte, der Papagei war nur äußerlich. Er drang durch die Schminke hindurch, vielleicht war sie älter geworden, wie schön wölbten sich noch die Grotten ihres Gesichts. Sie schimmerten flüchtig.
    »Was ist aus Ihnen geworden?«
    Das Täschchen, in dem sie kramte, war verschabt. Ein solches Kampftäschchen, es empörte sich gegen die Gesellschaft. Nebenan wurde in fremder Sprache gelacht.Ich werde sie zum Abendessen einladen, nahm sich Ginster vor und vergaß ganz zu antworten, weil er so hier war.
    »Wir wollen ins Hafenviertel«, bestimmte er, »Sie müssen es sehen. Zusammen mit mir.«
    In die Stadt zurück, der breite Nachmittag dröhnte. Er stieg mit ihr die steile Treppe hinan, die zu dem hochgelegenen Punkt führte, von dem aus das Viertel sich zum Hafen herabsenkte. Die Treppe hing an einer Umfassungsmauer, die sie erstickte. Frau van C. atmete oben schwer. Ginster empfand weder ihre noch die eigene Gegenwart, so berauscht war er von den Schätzen, die ihn umgaben. Sie bestanden aus Abfällen, Wäschestücken und Dreck. Sonne erfüllte die Höhlen und Schläuche, eine Richtung zu finden, war unmöglich. Schräg bogenförmig in den Eingeweiden gewühlt. Unzählige Kinder und Katzen quollen in einem hofartigen Sträßchen aus den Pflasterritzen, krochen durch Wände, schrien, vermischten sich. Kleine Lumpenbündel, einige ließen einen Papierkahn in dem Rinnsal hinabtreiben, das die Mitte des Sträßchens durchfloß. Der Kahn zerging bereits, seine feuchten Ränder legten sich auseinander. So lautlos versprühten in der Ferne Raketen. Es rieselte über alle Treppchen und Schrägen. Die Schmutzbäche mündeten in einen Menschenstrom, der sich in seinem engen Bett fortwährend staute, zurückwälzte, drehte und schwerflüssig weiter rann. Er brodelte an Gemüsebuchten und Trödelkellern vorbei, eine einzige Schlammasse, ihr Geruch vermengte sich mit dem der Fische, und rohe Fleischkeulen donnerten von den Ufern her über sie weg. Ginster vergewisserte sich, ob Frau van C. ihm noch folge. Rundes gelbes Sonnenlicht umarmte manchmal Gesichter und Zeug, malte die Flecken in einem Kellnersmoking sorgfältig aus. Hinterdem Kellner, der auf einer Treppenstufe saß, kräuselten sich undeutlich Akanthusblätter, das Haus war ein altes Patriziergebäude. Jetzt schützten seine geschweiften Fenstergitter keine Reichtümer mehr, und die einst so vornehme Fassade wuchs mit den Wänden des benachbarten Hausgesindels zu einem ununterschiedenen Mischmasch zusammen. Löcher an Löcher, oft fehlten die Scheiben. Der Briefträger hat es hier schwer, frohlockte Ginster im stillen. An einer Stelle war eine Schlucht ausgefressen, die das Gerippe der Häuser freilegte. In ihrem Dunkel lagerte ein Haufen von Balken, Dachteilen, Mauerbrocken und Stegen. Vielleicht wäre der unverständliche Knäuel mit einem Schlag zu entwirren gewesen und hätte dann herrlich gestrahlt. Ein Strahl traf Ginster, aber das Strahlen
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