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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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erste selbstverdiente Geld mache glücklich. Er hätte sich glücklicher gefühlt, wenn ihm das Geld geschenkt worden wäre, doch in Amerika besaß die Familie nur einen armen Verwandten. Seiner Spiralen wegen wurde ihm zur Architektur geraten. Wo der Plan zuerst aufgetaucht war, ließ sich später nicht mehr ergründen. Als er sich festgesetzt hatte, bemerkte Ginster, daß die Grundrisse in den Kunstgeschichtsbüchern ornamentale Figuren bildeten. Betrachtete er sie unabhängig von der Bedeutung, die sie im Zusammenhang mit dem Aufriß erhielten, so erschienen sie als Schwarzweißkompositionen aus Strichen, Buchstaben und leeren Flächen, deren Schönheit ihrem zwecklosen Dasein entsprang. Auch einer Art von Raumgefühl ermangelte Ginster nicht. Im letzten Schuljahr war er abends bei einem Herrn zu Gast, der als Dramatiker berühmt zu werden begann. Der Herr benutzte seine Anwesenheit, um durch den Vortrag eines gerade fertiggestellten Bühnenstücks von neuem auf sich Eindruck zu machen. Zum Glück war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß er die Zerstreutheit Ginsters hätte beachten können, den die Wohnung fortwährend ablenkte. Sie war so vorschriftsmäßig eingerichtet, daß er in dem Ausstellungsraum eines gehobenen Möbelgeschäftes zu sitzen glaubte und jeden Augenblick den Eintritt eines Brautpaares befürchtete, das die Sessel mitsamt dem Stück gegen Barzahlung kaufte. Die leichte Kritik, die Ginster während der folgenden Unterhaltung einflocht, machte den Verdacht der Unaufmerksamkeitgegen ihn von vornherein zunichte, da sie das Lob des Stückes nur noch mehr unterstrich. Trotz seiner Anlagen war Ginster mit dem Architektenberuf nicht zufrieden. Je mehr er sich ihm anzupassen suchte, desto deutlicher erkannte er, daß der Zauber der zeichnerischen Darstellungen sich verlor, sobald sie durch Backsteine und Maurer verwirklicht wurden. Statt sonderbar verschlungene Figuren in Gebäude münden zu lassen, hätte er es vorgezogen, alle nützlichen Gegenstände in Figuren zurückzuzerlegen. Zu den wunderbaren Erfahrungen gehörte ihm das Auftauchen fremder Linienwelten an beliebigen Orten. Viele Stunden verbrachte er über dem Mikroskop, in die Strukturen der Stoffe vertieft. Er sah Rangierbahnhöfe, geometrische Schwimmfeste und Ausbrüche der Panik, die sich als Präparate von Blut, Wasser und Haut enthüllten. Die Gestalt der glatten Hand verschlug ihm wenig gegenüber den Mustern, die ein Fetzchen ihrer Oberfläche barg. Manchmal fanden sich in der Natur selbst Präparate, die aus unsichtbaren Gebilden herausgeschnitten sein mochten. Leuchtende Rohrnetze, Ansammlungen von Trompeten ohne Bläser und schlürfende Wollknäuel mit Veilchenbeeten darauf – Ginster hatte sie unter der submarinen Fauna entdeckt, der er in einem Aquarium begegnete. Von überallher kamen die Figuren auf ihn zu. Durch ein Tintentröpfchen, das er in ein gefülltes Glas gleiten ließ, konnte er dem Spiegel der Flüssigkeit getuschte Ranken entlocken. Aus den Pfützen an Trambahnschienen strahlten ihm bunte Algenwälder entgegen, deren Labyrinthe er überflog. Die Lichter, die abends in den Mietshäusern brannten, beschienen nicht nur Familientische, sondern waren die Bruchstücke eines glänzenden Mosaiks.
    Ginster studierte zunächst in Berlin. Seine Leidenschaft waren lange einsame Spaziergänge, topographische Ausschweifungen, die mit gewöhnlichen Gängen nichts gemein hatten. Er steigt frühnachmittags am Bahnhof Gesundbrunnen aus und geht durch die endlosen Straßen des Nordens. Sie sind breit, zu breit; wenn ein Sturmwind kommt, fliegt der Hut an den grauen Fronten entlang. Ginster bleibt vor Läden stehen, in denen Zeug durcheinanderliegt, unterscheidet zwischen Weibern von nebenan und fremden Straßengästen, biegt in eine Querstraße ein, wandert dann wieder geradeaus, sucht die Sonnenseite auf, weil sie verlassener ist, und blickt durch Haustüren und in Höfe. Ein Hain öffnet sich mit Bäumen, Marmorgruppen, einem Teich und Täfelchen für die Blumennamen. Auch wenn die Blumen nicht mehr blühen, sind ihre Namen zu lesen. Die Marmorgruppen stehen weiß vor dem Laub, hinter dem die Hauswände erscheinen, aus denen die Kinder kommen. Viele Kinder spielen auf der Rasenfläche und überschreien die Vögel. Der Hain ist für sie geschaffen, es ist ein schöner Hain, aber im Vergleich mit anderen Hainen, in denen herrschaftliche Kindermädchen auf den Bänken sitzen, wirkt er lichtlos wie die Sonne, wenn sie
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