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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition)
Autoren: Siegfried Kracauer
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durch ein berußtes Glas angestarrt wird. Ein wenig später, und Ginster folgt der Ringbahnmauer, einem behördlich gefugten Mauerwerk, neben dem es sich wie in einem Keller geht, der aus Versehen keine Decke erhalten hat. Es zieht durch den Schlauch, das Rot ist verblichen, auf den oberen Stockwerksfenstern gegenüber liegt ein flüchtiger Schimmer. Er dringt nicht in die Zimmer hinein. Männer, soeben noch leibhaft vorhanden, zerfließen im Schatten und verschwinden in der Destille, über der ein Signalmast steht. Die Kinder sind in dem Hain. Ginster freut sich, daß ihn niemand hierfinden kann. Ein Stück weit fährt er wieder im Zug und schaukelt dann auf einem Omnibusverdeck über den Köpfen der Leute. Im Zentrum kehrt er bei Aschinger ein. Tageshelle mischt sich mit der künstlichen Beleuchtung, Hähne glitzern, ein Dunst von Bier und Geschäftigkeit umhüllt die Gesichter. Durch den schnellen Wechsel des Publikums entzieht sich das Lokal der Beachtung. Die Wahl, ob er es mit den Menschen halten solle oder dem vernachlässigten Ort, fällt Ginster nicht schwer. Kellner und Gäste sehen durch ihn hindurch, als habe er eine Tarnkappe auf dem Kopf. Draußen ist Hauptgeschäftszeit, es riecht nach Benzin. Der Prunk der großen Warenhäuser versetzt Ginster in Trauer. Er gleitet über das Gleisdreieck, schwebt oberhalb einer anorganischen Schienenlandschaft, in der Schornsteine, Werkschuppen und Rückfassaden wachsen. Die auf der künstlichen Ebene zerstreuten Arbeiter gleichen Bauern, die ihren Acker pflügen. Wenn es durchführbar wäre, ließe sich Ginster von der Brücke herab, überschritte die Schienen und begänne zu schreien. Er wird bestimmt nicht schreien. Vor einiger Zeit hat ihm ein Mann erklärt, daß nur Duckmäuser nicht das Bedürfnis verspürten, sich hie und da gehörig auszuschreien. Im Westen sind blankgeputzte Schellenknöpfe und Läufer auf den Treppen. Man könnte in Gesellschaft einer Dame auf einer Caféterrasse sitzen. In die Betrachtung eines Antiquitätengeschäfts versunken, erinnert sich Ginster der Marmorgruppen im nördlichen Hain, die um ihre Versetzung einkommen sollten. Sind die Biedermeiertische, die Truhen und Schränke erst auf die Zimmer verteilt, so verlieren sie schnell den Geschäftsgeruch. Sie gehören nicht minder zu den feinen Wohnungen wie die schmiedeeisernen Türungeheuer, die so leicht in den Angeln gehen, daß die jungen Mädchenihnen geräuschlos entschlüpfen können. Bei Anbruch der Dunkelheit langt Ginster auf einem Sternplatz an. Rundherum entfernen sich Straßen in gerader Richtung, die wieder in Sternplätze münden. Sternplätze sind dazu geschaffen, um Versammlungen in die Flucht zu jagen. Für Kinder bergen solche Plätze viele Gefahren. Die Kinder draußen fallen Ginster ein. Sie werden jetzt zu Hause sein, öffentliche Haine sind in der Dunkelheit nicht vorhanden.
    In M., wohin Ginster nach einigen Semestern übersiedelte, wollte er nicht mehr so allein herumlaufen wie bisher. Er suchte daher kurz vor Faschingsbeginn einen diplomierten Tanzlehrer auf, durch dessen Kunst er Beziehungen zu gewinnen hoffte. Der Tanzlehrer pries ihm in dem abgenutzten Unterrichtssälchen einen Sonderzirkel zu erhöhten Preisen an, in dem Mädchen mit großer Mitgift unter seiner Leitung die ersten Schritte unternähmen. Zahlen wurden genannt, die Glück verhießen. Da Ginster mit den Zahlen nicht umgehen konnte, entschied er sich für den billigeren allgemeinen Kursus. Geringschätzig schleifte der Tanzlehrer eine halbe Stunde durchs Sälchen; Ginster ihm nach. Die Schritte waren des niedrigen Honorars wegen der letzten Feinheit beraubt. An dem Fenster stand eine mürrische Frau ohne Gesicht. Ginster vermied es, sie anzusehen, wenn er hinter dem Tanzlehrer an ihr vorüberkam. Er achtete aufmerksam auf das Schlenkern vor ihm und schlenkerte auch. Hätte ihn der Tanzlehrer entführen wollen, so wäre er ihm willenlos gefolgt, immer schlenkernd aus dem Sälchen heraus. Das eine Paar Beine war magnetisch mit dem andern verknüpft; zusammen vier Beine, parallel ohne Ziel. Später mußte er Mädchen in Waschblusen herumführen, die Elli undPaula hießen. Man verbeugte sich, fegte den verschlissenen Boden ab, ging Arm in Arm wie in Wirklichkeit, dann wieder Verbeugung. Im Bett dachte Ginster oft über die Schritte nach und lernte sie auswendig. Es hatte keinen Zweck, mit den Mädchen zu reden, da sie auch nur zum Lernen hier waren. Sie dienten als Mannequins, die sich in Tänze
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