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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch
Autoren: H Dunmore
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Erstes Kapitel

    E s ist April und die Sonne ist warm. Ich sitze mit Faro auf einem Felsen nahe der Mündung der Bucht. Das Wasser unter dem Felsen ist so tief, dass Faro selbst jetzt, bei Ebbe, dort schwimmen kann. Ich bin über das Wirrwarr der schwarzen, glitschigen Steine hierher geklettert.
    Die Sonne glitzert auf dem Wasser. Alles ist strahlend hell, voller Leben und wunderschön. Ich bin nach Senara zurückgekehrt, zu unserer Bucht, denn hier gehöre ich hin. Faro und ich haben ewig miteinander geredet, über nichts Besonderes, einfach nur geredet. Das ist eines der schönsten Dinge mit Faro. Miteinander zu reden fällt uns so leicht, als könnten wir die Gedanken des anderen lesen. Manchmal tun wir das auch.
    Faros Schwanzflosse liegt geschwungen über der Kante des Felsens, und gelegentlich stößt er sich mit den Händen ab und taucht ins kristallklare Wasser, um sich zu erfrischen. Seine Arme und Schultern sind so muskulös, dass er sich ohne fremde Hilfe wieder nach oben ziehen kann.
    Doch darf er nicht allzu lange an Land bleiben. Falls er es tut, wird seine Schwanzflosse, die im Wasser so elastisch und glänzend ist wie bei einer Robbe, trocken und matt. Faro sagt, dass die Haut der Mer aufplatzt, wenn sie zu viel Sonne bekommt, und die Risse nur schwer zu heilen sind. Aber ich bin mir ganz sicher, dass Faro inzwischen länger an Land bleiben kann. Vielleicht liegt es einfach daran, dass er älter und belastbarer wird.
    Ich verliere mich in Gedanken. Glücklicherweise gehört Faro zu den Leuten, mit denen man auch schweigen kann. Während er sich auf unseren Felsen emporstemmt, perlt das Wasser an seinem schimmernden Körper ab.
    Ein weiterer Sommer liegt vor uns. Für meinen Bruder Conor und mich bedeutet das eine endlose Abfolge langer Tage, an denen wir im Meer schwimmen, in der Sonne liegen und abends mit Sadie spazieren gehen werden. Auch Sadie schwimmt gern, doch wenn ihre kleine Nase dabei aus dem Wasser schaut, gleicht sie eher einem Seehund als einem Golden Labrador. An den Abenden schichten wir Treibholz auf, machen ein Lagerfeuer am Strand und grillen selbst gefangene Makrelen.
    An die Vergangenheit will ich lieber nicht denken. Ich will in der Gegenwart leben. Dennoch geht mir die Flutwelle, die damals ganz St. Pirans überschwemmt hat, einfach nicht aus dem Kopf. Die Flut hat die Menschen verändert. Sie fühlen sich nicht mehr so sicher, nachdem sie gesehen haben, wie die Parkplätze überschwemmt und von Fischen bewohnt wurden und ihre Häuser sich in Höhlen verwandelten, die mit Sand und Salzwasser gefüllt waren.
    Conor und ich haben mit niemand darüber gesprochen, was mit uns in jener Nacht geschah, als der Gezeitenknoten sich vollständig auflöste. Es würde uns ja doch niemand glauben.
    Der Gezeitenknoten hat sich wieder zusammengefügt. Und solange das so bleibt, kann das Meer nicht ein weiteres Mal das Land überfluten.
    Doch ich habe ein mulmiges Gefühl. Ich kenne Indigos Macht.
    Im Januar sind wir nach Senara zurückgezogen. So hat die Flut also doch noch was Gutes gehabt: Das Haus, das wir in St. Pirans gemietet hatten, war unbewohnbar geworden. Und auch Mum wollte nicht länger in St. Pirans wohnen bleiben. In unserem alten Haus in Senara, oben auf den Klippen, sind wir sicherer, meint sie.
    Wenn ihr noch nie eine Flutkatastrophe erlebt habt, dann könnt ihr euch nicht vorstellen, wie St. Pirans hinterher aussah. Die Straßen waren von Schlamm, Sand, Steinen und jeder Menge Gerümpel verstopft. Mülltonnen, ramponierte Autos, Straßenschilder, Hunderte von Plastiktüten, schrottreife Computer, Fernseher mit zersplitterten Bildschirmen, schmutzige Kleidungsstücke und aufgeweichte Bücher, die zu Papierbrei wurden. Überall trieben vollgesogene Orangen umher. Man glaubt ja kaum, wie viele Orangen es in solch einer kleinen Stadt gibt. Außerdem lagen haufenweise tote Fische herum, nachdem das Meer sich wieder zurückgezogen hatte.
    Der Geruch war das Schlimmste. Die ganze Stadt stank nach verfaultem Essen, schleimigem Seetang, totem Fisch und dem Abwasser, das aus den geplatzten Leitungen drang.
    An den Häusern, die weiter oben am Hang stehen, hatte der Wasserpegel schmutzige Markierungen hinterlassen, doch unser Haus war komplett überflutet worden, sodass der ganze Dreck hinterher bis zur Decke reichte. Ein Büschel Seegras ragte sogar aus dem Schornstein heraus.
    Unsere Haustür hing lose an ihren Scharnieren. Unsere gesamte Habe trieb durch das Haus. Einige Gegenstände
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