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Die Blume von Surinam

Die Blume von Surinam

Titel: Die Blume von Surinam
Autoren: Linda Belago
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Prolog
    Britisch-Indien 1876
    Kalkutta
    M eter um Meter kämpften sie sich durch die Menschenmenge am Hafen von Kalkutta. Inika stolperte neben ihrer Mutter vorwärts, umgeben von schiebenden und drückenden Körpern, dass ihr angst und bange wurde. Es war laut, es stank und sie würde bald keine Luft mehr bekommen, so pressten sich die vielen Menschen aneinander. Wenn sie doch nur endlich dieses Schiff erreichen würden! Dort hätten sie Platz und Luft zum Atmen und vielleicht, vielleicht gäbe es auch endlich wieder etwas zu essen.
    Das schmächtige Mädchen spürte plötzlich den starken Arm seines Vaters um sich, der sie fest umklammerte und mitzog. Nun war sie ein wenig von den drängenden Menschen abgeschirmt, viel sicherer fühlte sie sich aber nicht. Die Menschenmasse schob sich unaufhaltsam dem Steg des Schiffes entgegen und Inika krallte sich mit aller Kraft am Arm ihres Vaters fest, als ihr Blick auf die Pierkante direkt neben ihnen fiel. Schwarzes, dreckiges Wasser schwappte zwischen der Mauer und dem Schiff hoch und schien nach ihr greifen zu wollen. Inika spürte die Anstrengung ihres Vaters, der versuchte, sie nach vorne zu schieben. Sie begann zu weinen und blickte sich suchend nach ihrer Mutter um.
    »Gleich sind wir auf dem Schiff, Liebes, gleich!« Ihr Vater schrie förmlich in ihr Ohr, konnte den Lärm der vielen Menschen aber kaum übertönen.
    Das Schiff. Wochenlang war dieses Schiff nun ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung gewesen: seit sie ihr kleines Dorf verlassen hatten, auf dem langen Fußmarsch nach Kalkutta, über sumpfigeStraßen, in den überfüllten Lagern, in denen es von Ungeziefer wimmelte, und in der Stadt selbst, wo sie nicht einmal mehr einen Schlafplatz bekommen hatten, sondern tagelang auf ihren Gepäckbündeln am Hafen kampieren mussten.
    Das Schiff – auf ihm und mit ihm würde alles besser. Sie würden einen trockenen Platz zum Schlafen bekommen, endlich auch Verpflegung – und es würde sie in ein fernes Land bringen, in dem eine sorgenfreie Zukunft auf sie wartete. So hatten es Inikas Eltern ihr immer und immer wieder erzählt.
    »Bleib dicht bei mir!«, hörte sie ihren Vater jetzt ihrer Mutter laut zurufen. In seiner Stimme klang Angst mit, und Inika klammerte sich weiter an ihn, als er sich nun dem Strom der drückenden Körper entgegenwandte. Entsetzt bemerkte Inika, wie ihre Mutter mehr und mehr abgedrängt wurde.
    »Sarina!« Sie sah, wie ihr Vater mit verbissener Miene versuchte, mit der freien Hand nach ihrer Mutter zu greifen.
    Ihre Mutter rief etwas, das Inika aber nicht verstehen konnte, und streckte einen Arm nach ihrer Tochter und ihrem Mann aus.
    Inika hörte ihren Vater leise fluchen, dann stieß er barsch ein paar Männer beiseite und bekam im letzten Moment den Arm seiner Frau zu packen. Inika sah, wie ihre Mutter vor Schmerz und Anstrengung das Gesicht verzog, und spürte, wie ihr Vater sie mit dem anderen Arm noch fester an sich drückte. Sein Gesicht war nass von Schweiß, er atmete schwer und ging gebückt unter der zusätzlichen Last des Sackes mit den Habseligkeiten auf seinem Rücken, während er mit aller Kraft seine Familie mit sich zerrte. Erst als sie vom Steg auf das Schiffsdeck gelangten, wo das Gedränge etwas nachließ und von wo aus Matrosen die Passagiere durch eine große Luke und eine steile Stiege hinunter in den Schiffsbau lotsten, lockerte sich sein Griff.
    »Sarina, hier, nimm Inika.«
    Er löste Inikas angststarren Griff und schob das Mädchen in den Arm ihrer Mutter. Inika war für ihre zwölf Jahre sehr kleinund wie ihre Mutter von zarter Statur. Sarina drückte ihre Tochter an sich. Inika lehnte sich an den Sari ihrer Mutter und vergrub das Gesicht in den Falten des üppigen Stoffs. Sarina strich ihr über das lange, schwarze Haar und schob sie sachte weiter.
    »Inika, geh, wir müssen noch ein Stück weiter. Irgendwo hier sind unsere Plätze. Kadir?«
    »Ich bin hier. Ich glaube, wir müssen bis nach hinten durchgehen.«
    Inikas Vater wuchtete den schweren Sack von seinem Rücken. Sie hatten nicht viel mitnehmen können; ein bisschen Kleidung, Mehl und etwas Salz und in weiser Voraussicht einige kleine Säckchen mit Heilkräutern. Die Versorgung sei für die Dauer der Schiffsreise gewährleistet, so hatte man ihnen versprochen, aber wer wusste das schon. Seine letzten Ersparnisse, ein paar Rupien, hatte Kadir sorgsam unter seinen Turban, den pagri , gesteckt.
    Schon kam einer der Matrosen und winkte die Passagiere weiter. Nach und
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