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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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gelungen war, seine Heimatlande am Rhein zu erreichen.
    Ulrika schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster, atmete tief die von Frühlingsduft erfüllte Nachtluft ein. Der Garten unter ihr zog sich wie ein zartes weißes Laken den Hügel hinauf – rosa und orangefarbene Blütenblätter, die im Mondlicht weiß wirkten, rieselten wie Schneeflocken von den Obstbäumen.
    Ulrika dachte an das verschneite Rheinland, an ihren kriegserprobten Vater, wie ihn die Mutter so oft beschrieben hatte – hochgewachsen, voller Energie, mit kantigen, stolzen Gesichtszügen und wachsamen Augen. Wenn er Persien vor zwanzig Jahren verlassen hatte, wäre er erst nach Unterzeichnung der Friedensverträge in seine Heimat zurückgekehrt. Germanien hätte sich demnach nicht länger im Krieg mit Rom befunden. Wie so viele seiner Landsleute hätte Wulf sich friedlich niederlassen und seinen Landbesitz bewirtschaften können. Nur durch das von Claudius kürzlich erlassene Dekret, den Status von Colonia aufzuwerten und die umliegenden Wälder zum Zwecke der Besiedlung zu roden, waren alte Wunden wieder aufgebrochen, war der alte Hass wieder aufgeflammt, wurde wieder gekämpft.
    War es denkbar, dass unter diesen Kriegern ihr Vater war? War er vielleicht der neue Held, der sein Volk in die Rebellion führte?
    Jetzt wurde ihr klar, was ihr Traum von dem Wolf bedeutete: Sie sollte nach Germanien aufbrechen, den Rhein hinauf.
    Als Ulrika noch jünger war und alles verschlang, was sie über das Volk ihres Vaters zu lesen bekam, hatte ihr die Mutter bei einem der besten römischen Händler mit Papyri die neueste Landkarte von Germanien besorgt. Gemeinsam hatten Mutter und Tochter die topographischen Gegebenheiten studiert. Gestützt auf Wulfs Beschreibungen seiner Heimat bis hin zu Details wie der Biegung eines Nebenflusses, der in den Rhein mündet, war es ihnen gelungen, die Gegend zu bestimmen, in der sein Stammesverband lebte. Wulf zufolge war seine Mutter dort die Hüterin einer heiligen Stätte aus alter Zeit.
    Selene hatte die Stelle mit Tinte gekennzeichnet: den heiligen Hain der Göttin der rotgoldenen Tränen. »Es heißt«, hatte sie ihrer Tochter erklärt, »dass Freia ihren Ehemann so sehr liebte, dass sie jedes Mal, wenn er zu einer langen Reise aufbrach, rotgoldene Tränen weinte.«
    Ulrika eilte zu der Mahagonitruhe am Fuße ihres Bettes, kniete sich davor, stemmte den schweren Deckel hoch und suchte dann so lange zwischen Leinen und Kinderkleidern und kostbaren Erinnerungen an ein Leben auf der Wanderschaft herum, bis sie auf jene Karte stieß und sie mit zitternden Händen entrollte. Da war sie, die markierte Stelle, wo Wulfs Stamm lebte.
    Sie presste die Karte an sich, und mit einem Mal erfüllten sie neuer Mut und die Gewissheit, ein neues Ziel vor Augen zu haben. Aber die Zeit drängte! Gaius Vatinius war bereits im Begriff, seine Legionen zusammenzustellen. Schon morgen würden sie zum Marsch nach Norden aufbrechen.
    Sie griff nach ihrem Umhang. Ich muss Mutter Bescheid sagen. Ich muss mich für mein selbstsüchtiges Verhalten und meine Respektlosigkeit entschuldigen und sie dann bitten, mir bei der Planung meiner Reise zu helfen.
    Aber die Räume der Mutter waren dunkel. Da Selene tagsüber unermüdlich damit beschäftigt war, anderen zu helfen, wollte Ulrika sie nicht wecken.
    Sie verschob ihr Vorhaben auf den frühen Morgen.

6
    Ulrika wurde von ihren Sklaven geweckt, die ihr das Frühstück und heißes Wasser für ein Bad brachten. Wichtiger jedoch war ihr, sich bei ihrer Mutter zu entschuldigen und sie in ihr Vorhaben einzuweihen.
    Ich werde Geld benötigen, sagte sie sich und ging auf die verschlossene Tür zu. Ich werde nur ein paar Sklaven mitnehmen, um rascher voranzukommen. Mutter wird mir sagen, welche Route die beste ist und auch die schnellste. Gaius Vatinius bricht heute mit einer Legion von sechzig Hundertschaften auf – sechstausend Mann. Ich muss Germanien noch vor ihnen erreichen, ich muss das versteckte Lager meines Vaters ausfindig machen und seine Leute warnen …
    »Tut mir leid, junge Herrin«, sagte Erasmus, der alte Majordomus, als er die Tür zu Selenes Schlafzimmer öffnete. »Deine Mutter ist nicht hier. Sie wurde vor Tagesanbruch zu einem Notfall gerufen. Eine schwierige Geburt … Gut möglich, dass sie zwei Tage fortbleibt.«
    Zwei Tage! Ulrika rang die Hände. Sie durfte nicht einen Tag länger warten.
    »Weißt du, wohin sie gegangen ist? Zu wem?«
    Aber der alte Mann hatte keine Ahnung, zu
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