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Viviane Élisabeth Fauville

Viviane Élisabeth Fauville

Titel: Viviane Élisabeth Fauville
Autoren: Julia Deck
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    Das Kind ist zwölf Wochen alt, und sein Atem wiegt Sie im ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus eines Metronoms. Sie sitzen beide auf einem Schaukelstuhl inmitten eines gänzlich leeren Zimmers. Die von den Umzugsmännern aufeinandergestapelten Kisten säumen die rechte Wand. Aus dreien davon, den oberen, die offenstehen, wurde das Allernötigste entnommen, Gebrauchsgegenstände für Küche und Bad, ein paar Kleider und die Babysachen, die zahlreicher sind als Ihre. Das Fenster hat keinen Vorhang. Es scheint an die Wand genagelt wie eine Skizze, eine reine Perspektivstudie, auf welcher die der Gare de l’Est entkommenen Gleise und Oberleitungen die Fluchtlinien darstellen.
    Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn Sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.
    Offen gestanden sind Sie nicht einmal mehr sicher, vorhin in jene Wohnung zurückgekehrt zu sein, die Sie seit Jahren heimlich aufsuchen. Konturen und Mengen, Farben und Stil verschmelzen in der Ferne. Hat es diesen Mann, der Sie dort empfing, überhaupt gegeben? Außerdem, wenn Sie sich etwas vorzuwerfen hätten, säßen Sie doch jetzt nicht untätig da. Sie würden umherirren, Ihre Fingernägel unter die Lupe nehmen, und die Schuldgefühle würden Ihre Entscheidungsfähigkeit lähmen. Doch davon keine Spur. Trotz jener Unschärfe, die in Ihren Erinnerungen herrscht, fühlen Sie sich sehr frei.
    Ihre Hüften halten inne, hören auf, ihre Bewegungen auf den Schaukelstuhl zu übertragen. Sie bringen das Baby ins Nebenzimmer. Dieser Raum ist ein wenig mehr eingerichtet. Auf der einen Seite des Fensters steht ein schmales Bett – unter dem umgeschlagenen Laken ist die Decke straff gespannt – und auf der anderen die Wiege. Das Kind protestiert kaum, als Sie es auf den Rücken legen, und schläft gleich wieder ein. Sie werfen einen Blick ringsum, richten die Kleiderstapel wieder auf, hinter denen sich unter dem Fenster eine Holztruhe verbirgt, glätten das Kleid, das vorne an einem metallenen Kleiderständer hängt, der auch alle Ihre Mäntel und Hosen für den Winter trägt. Die Pullover türmen sich auf dem Gitter über der Kleiderstange, die Pumps und Stiefel warten paarweise zwischen den Rollen.
    Die zwei Zimmer und das Bad sind vom Flur aus zu erreichen. Das Bad befindet sich am Ende des Flurs, ein winziger Verschlag, wo Ihre Knie, wenn Sie auf der Toilette sitzen, an das Waschbecken stoßen und Ihr linker Fuß an den Rand der Dusche. Farbzungen lösen sich langsam von der Decke ab. Eine Renovierung wäre nötig gewesen, aber Sie wollten so bald als möglich einziehen und haben dem Eigentümer erklärt, dass Sie die Wohnung, einmal vor Ort, selbst instand setzen lassen würden, wenn er Ihnen eine Monatsmiete nachließe. An der Küche gibt es nichts auszusetzen. Die unter der Arbeitsfläche aus Granitimitation eingebauten Elektrogeräte sind der letzte Schrei, und zusammen mit den strahlenden Rohren und Hähnen und den funkelnden Kacheln rechtfertigen schon sie allein die exorbitante Miete.
    Sie nehmen zwei Eier aus dem Kühlschrank und eine Schüssel aus dem Schrank über der Spüle, um ein Omelett zu schlagen. Man glaubt, ein Omelett müsse homogen sein, und man irrt sich. Die Kunst besteht darin, dem Gelb einen Hauch Weiß einzuflößen und das Ganze genau zum rechten Zeitpunkt vom Herd zu nehmen. Sie haben oft Ihre Mutter beim Schlagen eines Omeletts beobachtet. Ihre Unterweisungen haben sich Ihnen eingeprägt, und das ist auch das Wenigste, was man erwarten kann, denn darauf beschränken sich Ihre häuslichen Talente. Sie haben studiert, eine schöne Karriere gemacht. Diese Beschäftigungen lassen wenig Zeit, eine perfekte Hausfrau zu werden. Sie bedauern das, denn in Momenten der Ratlosigkeit wären Sie bereit, auf den Erstbesten zu hören, und es finden sich noch immer Leute, die einem versichern, dass einem auf diese Weise der Mann nicht wegläuft.
    Während Sie mit der Gabel die Eier verquirlen, versuchen Sie sich daran zu erinnern, was Sie
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