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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern
Autoren: Elisabeth Lukas
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Ein wohlwollendes Schicksal
    Im Folgenden möchte ich zunächst die freudvollen Situationen herausgreifen und der Frage ihrer potentiellen Gestaltung nachgehen. Gibt es eine Richtschnur, welche Haltungen angesichts von Glück und Erfolg optimal sind? Wahrscheinlich stellt sich kaum jemand jemals diese Frage, aber würde sie ihm gestellt werden, würde er sie vermutlich mit dem Hinweis aufs „Genießen“, auf Freude und Dankbarkeit beantworten. Er hätte recht. Und doch wäre damit die ethische Komponente, die im „Glücksspiel“ des Lebens mitschwingt, nicht ausgeschöpft. Betrachten wir ein hypothetisches Beispiel:
    Zwei Autofahrer fahren hintereinander auf einer Straße. Zu diesem Zeitpunkt ist ihre Fahrsituation vergleichbar. Plötzlich aber kommt der erste Autofahrer von der Straße ab und rutscht über den Hang einer Böschung in einen Graben hinunter. Er steigt zwar einigermaßen unversehrt aus dem Wagen, aber sein Auto ist kaputt. Mit einem Schlag ist die Situation der beiden Autofahrer zu einer unterschiedlichen geworden. Der erste hat sein Auto verloren, während der zweite ungehindert weiterfahren kann. Der erste befindet sich in einer reichlich misslichen Situation, während der zweite wohlbehalten in einem intakten Fahrzeug sitzt und vergnüglich seine Reise fortsetzen kann. Aber so einfach ist die Sache nun doch nicht. Denn der zweite Autofahrer ist Zeuge der leidvollen Situation des ersten und müsste sich schon sehr in der Kunst des Wegschauens üben, wenn er davon nicht berührt werden wollte.
    Exakt in solchen Gegensätzen bewegt sich unser Dasein. Entweder es geht uns selber gerade
nicht gut
, dann steht unser eigener Kummer im Vordergrund unseres Fühlens und Denkens, oder es geht uns selber gerade
gut
, dann steht der fremde Kummer, der immer irgendwo um uns herum aufspürbar ist, im Hintergrund unseres Fühlen und Denkens. Und auch, wenn der fremde Kummer „nur“ einen leisen Hintergrundschatten wirft, so fällt er dennoch just auf unsere helle Freude. Es sei denn …
    Kehren wir zurück zum zweiten Autofahrer. Er kann fröhlich und dankbar aufs Gas treten. Was soll ihn daran hindern? Oder er kann die Tatsache, dass sein Auto in Ordnung ist, nützen, um den verunglückten Fahrer aufzunehmen und zur nächsten Polizeistation bzw. sicherheitshalber ins Krankenhaus zu bringen. Er kann die Tatsache, dass er selber in ungetrübter Verfassung ist, nützen, um dem unter Schock stehenden Autofahrer beizustehen und beruhigenden Zuspruch zu geben. Die anskizzierten Alternativen muten uns sympathisch an. Warum? Ja, weil Glück, Gesundheit, Bildung, Erfolg, Reichtum usw. nicht zu ihrer Sinnfülle gelangen, wenn sie bloß zufrieden (und manchmal nicht einmal dies!) konsumiert werden, sondern eben jenen ethischen Auftrag in sich bergen,
geteilt und ausgeteilt
zu werden. Analog zur optimalen Haltung gegenüber einem unabänderlichen Leid, die im tapferen Ertragen, in einer Art „Heroismus“ gipfelt, gibt es auch eine optimale Haltung gegenüber dem Freudensfall, die sich neben dem Genuss zu einer „Humanität“ verdichtet, aus der heraus mit Hilfe des eigenen Glücks fremdem Leid die Stirn geboten wird. Würde der erste Autofahrer aus unserem Beispiel verzweifeln und sich vielleicht sogar das Leben nehmen wollen, weil sein Auto einen Totalschaden erlitten hat, den finanziell auszugleichen er nicht in der Lage ist, dann ließe seine Haltung am nötigen Mut und an Gelassenheit vermissen. Würde wiederum der zweite Autofahrer ungeachtet des Unfalls vor ihm und gleichgültig gegenüber dem darin verwickelten Pechvogel seine Route fortsetzen, würde es ihm an der nötigen Menschlichkeit und Verantwortlichkeit fehlen.
    Was erleichtert es uns, optimale Haltungen gegenüber Schicksalsfügungen zu entwickeln? Manchmal empfiehlt sich ein Blick in den Konjunktiv. Für den Autofahrer Nr. 1 mag darin geschrieben stehen: „Du hättest jetzt tot sein können!“ Für den Autofahrer Nr. 2 mag darin geschrieben stehen: „Das hätte auch dir passieren können!“ Manchmal empfiehlt sich ein Blick in die Zukunft. Für den Autofahrer Nr. 1 mag darin geschrieben stehen: „Das wird dir eine Lehre sein. Ab jetzt wirst du in engen Kurven besser aufpassen!“ Für den Autofahrer Nr. 2 mag darin geschrieben stehen: „Wenn du einmal eine Panne hast, wird auch dir jemand zu Hilfe kommen!“ Manchmal empfiehlt sich ein Blick gen Himmel. Der Autofahrer Nr. 1 könnte flüstern: „Gott sei Dank, dass meine Kinder nicht mit mir
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