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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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wem seine Herrin gerufen worden war.
    Ulrika überlegte. Rom war riesengroß, die Einwohnerzahl immens. Ihre Mutter mochte sich irgendwo in dem unendlichen Gewirr von Straßen und Gassen aufhalten.
    Sie ging wieder zurück in ihr Zimmer, überlegte hin und her und änderte dann ihren Plan. Ich werde es allein versuchen, beschloss sie. Mutter wird Verständnis dafür haben. Wie oft schon haben wir im Schutze der Nacht Hals über Kopf eine Stadt oder ein Dorf verlassen? Wie oft schon waren wir unterwegs, um Mutters Bestimmung zu folgen?
    Sie zog einen leeren Bogen Papyrus aus ihrem Schreibtisch, befeuchtete die trockene Tinte, machte sie mit der Spitze einer Rohrfeder geschmeidig und schrieb nach kurzem Nachdenken: »Geliebte Mutter, ich verlasse Rom. Ich glaube, dass mein Vater noch am Leben ist, deshalb muss ich ihn vor Gaius Vatinius’ Vorhaben warnen, seine Krieger in einen Hinterhalt zu locken. Ich möchte ihm im Kampf beistehen. Und ich möchte alles über sein Volk erfahren. Über
mein
Volk.«
    Sie hielt inne und lauschte darauf, wie das Haus langsam erwachte. Sklaven begannen ihre Arbeit, Rufe erschallten, die brüchige Stimme des alten Erasmus krächzte Befehle. Die Stoffbahnen vor dem Fenster bauschten sich in der Frühlingsbrise. Ein Schauer freudiger Erregung überlief Ulrika. Dies war der Aufbruch, nach dem sie sich gesehnt hatte, ohne zu wissen, wie er aussehen könnte. Keine ziellos verschwendeten Tage mehr, keine pflichtschuldigen Heiratspläne, die sie nur langweilten. Nichts konnte sie von ihrem Unternehmen abhalten.
    Sie dachte an die Menschen, die sie in diesen geheimnisvollen Wäldern kennenlernen würde, von denen sie so oft geträumt hatte. Und verwundert begriff sie, dass es noch einen weiteren Grund gab, so schnell wie möglich in die Heimat ihres Vaters aufzubrechen – jene Visionen und Träume und Ahnungen, die sie in ihrer Kindheit so verschreckt hatten, diese seltsame Krankheit, die anscheinend jetzt zurückgekehrt war. Möglicherweise war ihr deshalb in der Nacht zuvor der Wolf erschienen, möglicherweise fand sie eine Erklärung für diese Krankheit – und sogar Heilung – bei dem kriegerischen Volk ihres Vaters, in den nebelumhüllten Wäldern im hohen Norden.
    »Neunzehn Jahre lang hatte ich keinen Vater«, schrieb Ulrika weiter, »diese verlorene Zeit möchte ich wiedergutmachen. Und ich möchte dem Mann, der mir das Leben geschenkt hat, etwas zurückgeben. Ich liebe dich, Mutter. Du hast mich beschützt, als ich noch keine Federn hatte und mein Nest gefährdet war. Du nanntest mich ein Geschenk der Göttin, das Wunderkind, das in deinem einsamen Exil zu dir kam, und deshalb warst du dir auch bewusst, dass ich dir niemals ganz gehören, dass die Göttin mich eines Tages zur Erfüllung einer besonderen Aufgabe rufen würde. Dieser Ruf scheint mich jetzt zu ereilen. Ich glaube, ich werde bald herausfinden, wohin ich gehöre, und dann wird mir auch bewusst werden, wer ich bin.
    Liebste Mutter, ich werde dich immer lieben und ehren, und ich bete, dass wir eines Tages wieder zusammen sein werden. Ich werde dich in meinem Herzen bewahren, Mutter, wohin mein Weg mich auch führen mag, welches Schicksal auch immer mir beschieden ist.«
    Um die Tinte zu trocknen, streute sie Sand darüber, und als sie den Bogen zusammenrollte und mit rotem Wachs versiegelte, tropfte eine Träne auf das Schriftstück. Sie verschwamm zu einem Klecks, der Ähnlichkeit mit einem Stern aufwies.
    Im Atrium traf sie auf Erasmus, der das Säubern der marmornen Vogeltränken beaufsichtigte. Nur bei ihm wusste Ulrika den Brief für die Mutter in sicheren Händen. Mit einem »Gewiss doch, junge Herrin« senkte Erasmus den kahlen Schädel und ließ die Schriftrolle in einer der vielen geheimen Taschen seines farbenprächtigen Gewandes verschwinden. »Sobald die Herrin zurück ist, werde ich ihr das Schreiben aushändigen.«
    Tausend Gedanken umkreisten Ulrika, als sie sich mit gebotener Umsicht ans Packen machte. Wie sollte sie in den so weit entfernten Norden gelangen? Colonia lag fast am Rande der Welt. Sollte sie Sklaven mitnehmen oder sich allein auf den Weg machen? Einen Augenblick lang erwog sie, Tante Paulina um Rat zu fragen oder ihren Stiefvater oder ihre beste Freundin, verwarf diese Gedanken aber gleich wieder. Sie alle würden doch nur versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
    Sie packte die einfachsten Gewänder ein, die sie besaß, außerdem ein zusätzliches Paar Sandalen, Geld, einen weiteren
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