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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels
Autoren: Stefan Koenig
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Eine alte Geschichte
     
    Am Morgen des 10. Juli 1974 war der sechsundzwanzigjährige Karl Mannhardt in Mittenwald aus dem aus München kommenden Frühzug gestiegen.
    Später sollte sich der Bahnhofsvorsteher an den jungen Mann erinnern, der mit schwerem Rucksack und in Bergstiefeln über den Bahnsteig gestapft war. »Werktags fällt so ein Bergsteiger ja noch auf«, sagte er aus, als die Staatsanwaltschaft der Sache nachging. Zunächst nämlich war die Identität des Opfers nicht zweifelsfrei belegbar gewesen. »Am Wochenend wär er mir net aufgefallen, da kommen ja viele, jeder Zug bringt haufenweis Leut, die wo ins Karwendel oder ins Wetterstein wollen.«
     
    Mannhardt war Schlosser von Beruf, beschäftigt bei MAN in Karlsfeld. Er mochte seine Arbeit, auch wenn er abends immer nach Öl und Schmiere roch und noch in der Unterwäsche die feinen Eisenspäne fand. Viel mehr noch als seinen Beruf, den er profund und mit bestem Abschluss erlernt hatte, mochte er die Berge. Er war alleinstehend, ungebunden, und er ließ kaum einen freien Tag vergehen, an dem er nicht mit der Bahn nach Süden fuhr, den Bergen entgegen, die er so sehr liebte.
    Es gab bevorzugte Ziele, er fuhr oft nach Garmisch-Partenkirchen, gern nach Kufstein oder Mittenwald. Bisweilen auch bis Jenbach oder Innsbruck, wo er dann aber umstieg, um noch tiefer in die Zentralalpen zu gelangen. Am liebsten war er allein unterwegs. Ganz allein. Allein mit sich und einer faszinierenden, menschenleeren Natur. Dann musste er mit niemandem reden, musste niemandem zuhören, konnte sich der Stille hingeben, wo es sie gab, oder durfte auf all das hören, was an Geräuschen und Klängen fernab der Zivilisation auf ihn wartete: das Rauschen der Wildbäche, der Wind in den Baumwipfeln, das Glockengebimmle der Bergschafe, das Poltern und Krachen der Steine in einem abgeschiedenen Kar und bisweilen die Rufe einer Seilschaft hoch oben in den Felswänden: »Stand!« – »Seil ein!« – »Kannst nachkommen!« – »Ich komme!«
    Selbst das Echo eines Donners konnte ihn erfreuen – wenn das Gewitter nur weit genug entfernt war und sich anschickte, in sicherer Entfernung an seinem Weg vorbeizuziehen.
    In Mittenwald wanderte Mannhardt zwischen den Geschäften und Gasthäusern hindurch dem südlichen Ortsrand entgegen. Immer wieder sah er hinauf zum sich linker Hand erhebenden Karwendelmassiv: schroffe Felsen, die Bergstation der Gondelbahn, ein langer Grat. Eindrucksvoller noch aber war gegenüber die Wettersteinspitze, die sich über dichtem Bergwaldgrün erhob und deren Felskanten und in engen Karen eingebettete Schneefelder schon im Licht der Sonne zu leuchten begannen.
    Dort, wo eine Straße nach rechts in Richtung Leutasch abzweigte, nahm er den Rucksack von den Schultern und wartete darauf, dass ein Autofahrer anhielt und ihn mitnahm. Lange musste er sich nicht gedulden – er sah ja nicht wie ein Hippie aus, sondern wie ein Bergsteiger: Bergstiefel, Rucksack, Seil darübergehängt. Da hatte niemand Misstrauen.
    So gelangte er über den kleinen Grenzübergang nach Tirol.
    Dort hatte der an diesem Tag diensthabende österreichische Zollbeamte später Mühe, sich an Mannhardt zu erinnern. Wie auch? Selbst diesen kleinen, eigentlich unbedeutenden Übergang passierten täglich mehrere hundert Fahrzeuge; viele der Bewohner des weiten Leutascher Hochtals arbeiteten in Mittenwald oder Garmisch.
     
    Der Weiler Lochlehn bestand lediglich aus ein paar Häusern. Das ganze Hochtal war durch solche winzigen Orte besiedelt. Überhaupt konnte man leicht die Meinung gewinnen, dass die Menschen, die sich vor Zeiten hier niedergelassen hatten, möglichst viel Abstand zueinander haben wollten. Die Leutascher Ortsteile sahen schon auf der Karte aus, als hätte Gott sie einfach hingeworfen wie eine Handvoll Streusand.
    »Wenn Sie mich da bitte rauslassen«, sagte Mannhardt zum Fahrer, während er gleich hinter Lochlehn die Karte, die er auf den Knien hatte, zusammenfaltete. »Hier wäre es gut.«
    »Wo wollen Sie denn eigentlich hin?«, fragte der Fahrer. »Zur Meilerhütte?«
    Mannhardt nickte. »Zur Meilerhütte und dann weiter«, sagte er und lächelte. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.«
    Er wuchtete den Rucksack vom Rücksitz des Autos und machte sich auf den Weg, drehte sich allerdings noch einmal um und winkte dem Mann, der ihn mitgenommen hatte.
    Das Berglental galt als besonders einsam. Lang und auch mühsam war der Aufstieg zur Meilerhütte. Die wenigen, die diesen Weg nutzten,
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