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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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ihr, schwärzer als Pech und in der Mitte gescheitelt, über Schultern und Rücken fiel. Ulrika konnte sich nicht erklären, warum es sie ausgerechnet zu dieser armseligen Wahrsagerin zog – vielleicht war sie ja mehr um Ehrlichkeit bemüht denn auf Geld aus? –, jedenfalls blieb sie vor ihr stehen und wartete ab.
    Nach kurzer Zeit hob die Wahrsagerin den Kopf, und Ulrika war verblüfft über das ungewöhnliche Gesicht, das ihr entgegenblickte: Es war lang und schmal, knochig und von gelblichem Teint, umrahmt von dem nachtdunklen Haar. Traurige schwarze Augen unter gewölbten Brauen blickten Ulrika an. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte die Frau, und sie schien alterslos zu sein. War sie zwanzig oder achtzig? Neben ihr hatte sich eine braunschwarz gefleckte Katze zusammengerollt. Ulrika erkannte in ihr eine Ägyptische Mau, die dem Vernehmen nach älteste Katzenrasse, möglicherweise sogar die Urmutter aller Katzen.
    Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf die glänzenden schwarzen Augen, aus denen Traurigkeit und Weisheit sprachen.
    »Du hast eine Frage«, eröffnete die Wahrsagerin in perfektem Lateinisch das Gespräch und starrte Ulrika unverwandt an.
    Der Lärm in der Gasse verebbte. Ulrika fühlte sich wie gebannt von schwarzen ägyptischen Augen, die braune Katze döste vor sich hin.
    »Du willst mich wegen eines Wolfs befragen«, sagte die Ägypterin mit einer Stimme, die älter zu sein schien als der Nil.
    »Ich habe ihn im Traum gesehen, Weise Frau. War das ein Zeichen?«
    »Ein Zeichen wofür? Stell deine Frage.«
    »Ich weiß nicht, wohin ich gehöre, Weise Frau. Meine Mutter ist Römerin, mein Vater Germane. Ich wurde in Persien geboren und war fast mein ganzes Leben lang mit meiner Mutter auf Wanderschaft. Denn sie folgte einer Bestimmung. Wo immer wir hinkamen, fühlte ich mich als Außenseiterin. Es bedrückt mich, Weise Frau, dass ich, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehöre, niemals wissen werde, wer ich bin. War der Traum von dem Wolf ein Hinweis, dass ich in das Land am Rhein gehöre, zu dem Volk meines Vaters? Ist es für mich an der Zeit, Rom zu verlassen?«
    »Überall um dich herum gibt es Zeichen, Tochter. Die Götter geleiten uns, wohin auch immer wir gehen.«
    »Du sprichst in Rätseln, Weise Frau. Kannst du mir wenigstens meine Zukunft vorhersagen?«
    »Da wird ein Mann sein«, kam es von der Wahrsagerin, »der dir einen Schlüssel anbietet. Nimm ihn.«
    »Einen Schlüssel? Wofür?«
    »Das wirst du verstehen, wenn die Zeit kommt …«

2
    Als Ulrika den Garten hinter der hohen Mauer auf dem Esquilin, einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist, betrat, presste sie die Hand an die Brust, bis sie unter dem Seidengewebe ihres Gewandes das Kreuz Odins spürte, das beschützende Amulett, das sie von klein auf begleitete. Sie betastete seine vertrauten Umrisse, die sich an ihren Busen drückten, und versuchte sich einzureden, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber das Unbehagen, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie den ganzen Tag über begleitet, so dass sie jetzt, da eine orangerote Sonne nach und nach hinter Roms Marmorgebäuden verschwand, kaum atmen konnte. Wie wünschte sie sich, alles wäre wieder so wie immer! Selbst Themen, die sie noch tags zuvor verärgert hatten, wären ihr jetzt, an diesem späten Nachmittag, als Ablenkung willkommen. Zum Beispiel die Frage, ob sie, wie es alle erwarteten, Drusus Fidelius heiraten wollte.
    Es lag Ulrika fern, ungehorsam zu sein. Rom erzog seine Töchter zu Ehefrauen und Müttern. Alle ihre Freundinnen waren entweder verheiratet oder versprochen (ausgenommen die zu ihrem Leidwesen durch eine Hasenscharte entstellte Cassia, was eine Garantie für lebenslange Jungfernschaft war). Andere Zukunftspläne gab es auch gar nicht. Eine alleinstehende junge Frau ohne den Schutz eines Mannes war eine Seltenheit. Sogar Witwen kamen bei männlichen Verwandten unter. Ulrika hatte ihrer besten Freundin anvertraut,
nicht
heiraten zu wollen, weder Drusus Fidelius noch sonst irgendeinen Mann. Worauf die Freundin ausgerufen hatte: »Aber kein junges Mädchen will
freiwillig
unverheiratet bleiben! Ulrika, was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen?« Auf diese Frage hatte Ulrika keine andere Antwort gehabt als die, dass sie seit jeher das unbestimmte Gefühl habe, sie sei zu etwas anderem berufen. Was das war, wusste sie allerdings nicht zu sagen. Ihre Mutter hatte sie zwar in den Grundlagen der Heilkunst unterrichtet, in
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