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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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Männer lachte. »Wenn nicht, Verehrteste, wäre er am Boden zerstört! Vatinius wäre erschüttert, wenn er erkennen müsste, dass es in Rom auch nur eine schöne Frau gibt, die nicht weiß, wer er ist.«
    Ulrika, der die gepresste Stimme der Mutter nicht entgangen war, musterte eingehend den Mann, den Selene mit »Befehlshaber« angesprochen hatte. Er war hochgewachsen, Anfang vierzig, mit tiefliegenden Augen und einer langen, geraden Nase. Wie aus Marmor gemeißelt wirkte er. Der Anflug eines gekünstelten Lächelns, das seine Lippen umspielte, zeugte von Arroganz.
    »Bist du vielleicht«, hörte Ulrika die Mutter stockend fragen, »jener Gaius Vatinius, der vor einigen Jahren am Rhein kämpfte?«
    Sein Lächeln vertiefte sich. »Du hast also doch von mir gehört.«
    Gaius Vatinius wandte sich Ulrika zu, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß. Im nächsten Augenblick meldete ein Sklave, dass das Mahl aufgetragen sei, worauf sich die drei Männer mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung Haus begaben.
    Ulrika sah, dass ihre Mutter kreidebleich geworden war. »Gaius Vatinius hat dich erschreckt, Mutter. Wer ist er?«
    »Er befehligte einst die Legionen am Rhein«, antwortete Selene, wobei sie dem Blick ihrer Tochter auswich. »Aber das war lange vor deiner Geburt. Lass uns hineingehen.«
    Vier Tische standen im Speisesaal, jeder auf drei Seiten von Ruhebetten flankiert. Die Platzierung der Gäste folgte einem strengen Protokoll, demzufolge die Ehrengäste jeweils auf dem Ruhebett an der linken Seite des Tisches lagerten. Die vierte Seite des Tisches blieb frei, damit die Sklaven ungehindert Speisen und Getränke auftragen konnten. Gebratene Fasanen im Federkleid prangten in der Mitte der Tafel, um sie herum Platten und Schalen mit verschiedenen Speisen, von denen die Gäste sich selbst bedienen konnten. Die Stimmen von mehr als dreißig Personen schwirrten durch den Raum, drohten schier die Klänge der Panflöte zu übertönen, die ein Musikant spielte.
    Ulrika wollte sich gerade auf ihren Platz neben einem Rechtsgelehrten namens Maximus niederlassen, als sie kurz einen Blick hinüber zu Gaius Vatinius warf. Sie mochte kaum ihren Augen trauen.
    Auf dem Fußboden neben dem Befehlshaber saß ein riesiger Hund.
    Ulrika runzelte die Stirn. Wie kam ein Gast auf die Idee, seinen Hund zu einer Essenseinladung mitzunehmen? Sie musterte die anderen Gäste, die sich ungezwungen mit Wein und Delikatessen bedienten. Empfand denn niemand sonst diesen Hund als völlig fehl am Platze?
    Mit leichtgeöffneten Lippen und angehaltenem Atem sah sie wieder auf das Tier. Nein, das war kein Hund –, sondern ein Wolf! Groß und grau und zottelhaarig, mit bohrendem Blick und gespitzten Ohren, wie der Wolf in ihrem Traum. Und er starrte sie unverwandt an, derweil Gaius Vatinius mit seinen Tischnachbarn plauderte.
    Ulrika konnte sich vom Anblick des mächtigen Tiers nicht losreißen.
    Während sie weiterhin reglos verharrte, merkte sie, dass der Wolf langsam aus ihrem Blickfeld schwand, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Ulrika zwinkerte. Er hatte sich doch gar nicht von seinem Lager erhoben! Nicht den Speisesaal verlassen. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, vor ihren Augen.
    Es war ihr, als verlöre sie den Boden unter den Füßen. Zitternd tastete sie nach dem Ruhebett und sank darauf nieder. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Jetzt begriff sie, warum sie sich den ganzen Tag über so unwohl gefühlt hatte.
    Die Krankheit hatte sich wieder eingestellt.

3
    Sie hatte geglaubt, sie wäre die geheimnisvolle Krankheit, die ihre Kindheit überschattet und über die sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrer Mutter, gesprochen hatte, losgeworden, als sie ihr zwölftes Lebensjahr erreichte. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum ersten Mal etwas gesehen hatte, was andere nicht sahen, oder von etwas geträumt hatte, das sich noch gar nicht ereignet hatte, oder die Hand von jemandem berührt und gewusst hatte, dass dieser Mensch Seelenqualen litt. Als sie als Achtjährige mit ihrer Mutter beim Metzger war und dieser ein Hackebeil suchte, hatte Ulrika ihm zugerufen: »Es ist hinten unter einen Tisch gefallen.« Der Metzger war in einen rückwärtig gelegenen Raum gegangen und sichtbar verblüfft mit dem Hackebeil zurückgekommen.
    Diesen verblüfften Gesichtsausdruck hatte Ulrika häufig genug erlebt, um zu wissen, dass das, was sie sah oder spürte, ob im Traum oder als Vision, nicht normal war. Da sie sich jedoch damals schon in
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