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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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von der Vision von dem Wolf beim Festmahl am heutigen Abend zu berichten und sie zu fragen, was das alles zu bedeuten habe und wie denn
ihre
Krankheit zu heilen sei, sagte sie stattdessen, nachdem sie Platz genommen hatte: »Mutter, heute Abend hast du kaum etwas gegessen. Du warst blass und ungewöhnlich schweigsam. Und wie du Befehlshaber Vatinius angestarrt hast – warum erschreckt er dich so?«
    Selene setzte sich der Tochter gegenüber, griff zu einem langen Schüreisen und stocherte damit in der Kohlenpfanne herum. »Es war Gaius Vatinius, der vor vielen Jahren das Dorf deines Vaters niedergebrannt und deinen Vater in Ketten abgeführt hat. In den Jahren unseres Zusammenseins hat Wulf oft davon gesprochen, dass er nach Germanien zurückkehren und an Gaius Vatinius Rache nehmen wollte.«
    Selene seufzte tief. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte sich davor gefürchtet. Und jetzt, da es so weit war, merkte sie, wie ihr der Mut schwand. Sie dachte zurück an den Tag, als die damals neunjährige Ulrika weinend ins Haus gestürmt war, weil ein Junge aus der Nachbarschaft sie einen Bastard genannt hatte. »Er sagt, ein Bastard ist ein Kind, das keinen Vater hat. Und weil ich keinen Vater habe, bin ich ein Bastard.« Selene hatte sie beschwichtigt. »Hör nicht auf das, was andere sagen. Sie wissen nichts. Natürlich hast du einen Vater. Aber er ist gestorben, und jetzt weilt er bei der Göttin.«
    Natürlich hatte Ulrika die Mutter mit Fragen bestürmt, und Selene hatte ihr daraufhin alles berichtet, was sie über Wulfs Volk wusste. Sie hatte ihr von der Weltesche erzählt, vom Land der Eisriesen und von Mittelerde, wo Odin wohnte. Ulrika hatte erfahren, dass sie nach ihrer germanischen Großmutter genannt worden war, der Seherin des Stammes, deren Name, wie Wulf gesagt hatte, Ulrika lautete, was so viel wie »Wolfsmacht« bedeutete. Auch dass ihr Vater ein Fürstensohn seines Stammes war, ein Kind des als Held verehrten Arminius, hatte Selene Ulrika erzählt. Nur dass Wulf ein Kind der Liebe war, ein
unehelicher
Sohn von Arminius, hatte sie der Tochter verschwiegen. Dieses Geheimnis bewahrte Selene. Genug war genug.
    Aus all dem hatte sich Ulrika einen imaginären Vater erschaffen. Bei ihren Spielen bildeten Holzlöffel einen Föhrenwald, und ein mit Wasser gefüllter Graben wurde zum Rhein erklärt. Sie hatte sich Geschichten vom Fürstensohn Wulf ausgedacht, in denen er nach vielen Abenteuern und Schlachten und Romanzen immer den Sieg davontrug. »Mama, erzähl mir doch noch mal«, pflegte Ulrika die Mutter zu drängeln, »wie mein Vater aussah«, und dann beschrieb Selene Wulf als Krieger mit langem blonden Haar und muskulösem Körperbau. Mit zwölf Jahren ließ Ulrika von Puppen und auch von Spielen, die sie sich ausdachte, ab und verlegte sich auf das Lesen von Schriften jeglicher Art, verschlang alles, was ihr über Germanien in die Hände fiel, um die Wahrheit und die Zusammenhänge über das Volk ihres Vaters und ihr Land zu erfahren.
    Jetzt blickte sie forschend in das Gesicht der Mutter, das von der Kohlenglut bernsteinfarben beleuchtet wurde. »Da gibt es doch noch etwas, ist es nicht so, Mutter? Etwas, das du mir verschweigst?«
    Selene sah ihre Tochter, dieses Kind, das seit dem Augenblick seiner Zeugung im fernen Persien von Magie und Geheimnis umgeben war, freimütig an. Sie dachte an die Gabe, die Ulrika möglicherweise von ihrer germanischen Blutlinie vererbt bekommen hatte – eine hellseherische Fähigkeit, die Selene bei ihrer Tochter bereits im Kindesalter beobachtet hatte. Die kleine Ulrika konnte damals sagen, wo verloren gegangene Sachen zu finden waren, und unerwartete Ereignisse nahm sie so gelassen hin, als wäre sie darauf vorbereitet. Sie erkannte, wenn jemand bekümmert war, noch ehe Selene selbst diese seelische Notlage bemerkt hatte. Die Mutter respektierte, dass Ulrika annahm, diese Fähigkeit für sich behalten zu haben, schon weil sie sich sicher war, dass ihre Tochter eines Tages kommen und eine Erklärung für diese absonderlichen Wahrnehmungen von ihr erbitten würde. Der Zeitpunkt für ein solches Gespräch schien vor sieben Jahren gekommen zu sein, anlässlich eines Ausflugs aufs Land, als Ulrika behauptet hatte, eine Frau gesehen zu haben, die in panischer Angst aus dem Wald auf sie zugerannt sei. Aber da war keine Frau gewesen. Selene hatte dies als eine weitere Vision gedeutet, die Ulrika erlebt hatte. Merkwürdig war jedoch, dass der Tochter diese
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