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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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Fähigkeit danach abhanden gekommen zu sein schien, so als ob der Eintritt ins Erwachsenenalter die zarte, einfühlsame Gabe der Wahrnehmung überlagert und vollständig abgeschottet hätte.
    Die Mutter seufzte abermals tief auf. »Es gibt etwas, was ich dir längst hätte sagen sollen. Ich hatte es auch immer vor. Aber solange du klein warst, meinte ich, du würdest es nicht verstehen, deshalb sagte ich mir immer: später, wenn Ulrika älter ist. Aber der richtige Zeitpunkt stellte sich einfach nicht ein. Ulrika, ich habe dir erzählt, dass dein Vater noch vor deiner Geburt bei einem Jagdunfall umgekommen ist, damals, als wir in Persien lebten. Aber so verhielt es sich nicht. Wulf hatte Persien längst verlassen und war nach Germanien zurückgekehrt.«
    Gedämpfte Geräusche hallten in der Ferne – von ächzenden Rädern auf der ansonsten verwaisten Straße hinter der hohen Mauer der Villa, das Klapperdiklapp von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, der einsame Ruf eines Nachtvogels.
    »Er verließ Persien, weil ich darauf bestand«, fuhr Selene leise fort. »Wir waren noch nicht lange dort, als wir hörten, dass Gaius Vatinius vor uns durchgezogen und inzwischen auf dem Weg ins Rheinland war. Ich beschwor deinen Vater, ihm unverzüglich zu folgen. Ich selbst wollte in Persien bleiben.«
    »Und er ging fort? Obwohl er wusste, dass du schwanger warst?«
    »Das wusste er nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, weil er sonst bei mir geblieben wäre. Dein Vater war ein ehrenhafter Mann. Sobald das Kind da gewesen wäre, hätte er uns nie wieder verlassen. Ich hatte kein Recht, mich in sein Leben zu drängen, Ulrika.«
    »Kein Recht! Du warst seine Frau!«
    Selene schüttelte den Kopf. »Nein, war ich nicht. Wir waren nicht verheiratet.«
    Ulrika starrte die Mutter fassungslos an. »Wulf hatte bereits eine Frau«, sagte Selene und vermied es, der Tochter in die Augen zu schauen. »Er hatte in Germanien eine Frau und einen Sohn. Deinem Vater und mir war kein gemeinsames Leben bestimmt. Sein Schicksal erwartete ihn im Rheinland, und ich wollte, wie du weißt, meiner eigenen Berufung folgen. Jeder von uns musste seinen eigenen Weg finden.«
    »Er ging aus Persien fort, ohne von deiner Schwangerschaft zu wissen«, murmelte Ulrika. »Demnach hat er nichts von mir erfahren.«
    »Nein.«
    »Demnach weiß er auch bis heute nichts von mir!« Der Gedanke traf Ulrika wie ein Schlag. Sie konnte das alles kaum fassen. »Mein Vater hat keine Ahnung, dass es mich gibt!«
    »Er ist nicht mehr am Leben, Ulrika.«
    »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
    »Wenn dein Vater Germanien erreicht hätte, dann hätte er Gaius Vatinius aufgespürt und Rache genommen.«
    »Und da Gaius Vatinius lebt, kann das deiner Meinung nach nur bedeuten, dass mein Vater tot ist«, sagte Ulrika leise.
    Selene wollte nach der Hand der Tochter greifen, aber Ulrika entzog sich ihr. »Du hattest kein Recht, mir das zu verschweigen!«, rief sie. »Mein ganzes bisheriges Leben war eine Lüge!«
    »Es geschah zu deinem eigenen Besten, Ulrika. Als Kind hättest du nicht verstanden, warum ich zuließ, dass dein Vater in sein Land zurückkehrte.«
    »Ich bin schon lange kein Kind mehr, Mutter«, stieß Ulrika aus. »Du hättest mir schon vor Jahren die Wahrheit sagen können, anstatt sie mich auf diese Weise entdecken zu lassen.« Abrupt stand sie auf. »Du hast mir meinen Vater genommen. Und heute Abend hast du seelenruhig mit angesehen, wie ich mich mit diesem Ungeheuer unterhalten habe.«
    »Ulrika …«
    Aber Ulrika war schon zur Tür hinausgestürmt.

5
    Ulrika lag auf ihrem Bett und starrte zur Decke ihres Schlafgemachs hoch. Aus der Ferne drangen die Geräusche des nächtlichen Verkehrs auf den Straßen der Stadt an ihr Ohr. Das Herz pochte ihr bis zum Halse. Sie hatte geweint, aber nur kurz, und dann angefangen, intensiv nachzudenken. Jetzt, da sie in die Dunkelheit starrte, versuchte sie, sich über ihre Gefühle Klarheit zu verschaffen. Es tat ihr leid, wie hässlich sie zu ihrer Mutter gewesen war, wie sie auf und davon gerannt war.
    Morgen werde ich mich als Erstes bei ihr entschuldigen, dachte sie. Und vielleicht können wir in aller Ruhe über Vater reden, vielleicht hilft das, diesen Riss zu kitten, zu dem es zwischen uns nicht hätte kommen dürfen.
    Ihr Vater …
    Wie konnte ihre Mutter so sicher sein, dass er tot war? Wieso war Gaius Vatinius der Beweis dafür? Nur weil der General noch lebte, hieß das noch lange nicht, dass Wulf es nicht
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