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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe
Autoren: Barbara Wood
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    Sie war auf der Suche nach Antworten.
    Am Morgen war die neunzehnjährige Ulrika mit dem Gefühl aufgewacht, dass irgendetwas nicht stimmte. Während sie gebadet und sich angekleidet hatte und ihre Sklaven ihr anschließend das Haar hochgesteckt und die Sandalen geschnürt hatten, um dann das Frühstück, bestehend aus Weizenkleie und Ziegenmilch, aufzutragen, hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Das rätselhafte Unbehagen verging nicht, im Gegenteil, es wurde immer stärker und drängender. Also beschloss sie, die Straße der Wahrsager aufzusuchen, wo Seher und Mystiker, Astrologen und Zukunftsdeuter allerlei Lösungen für die Geheimnisse des Lebens versprachen.
    Als sie jetzt, von einem Vorhang abgeschirmt, in einer Sänfte durch die lärmenden Straßen Roms getragen wurde, grübelte sie darüber nach, woher dieses Unbehagen rühren mochte. Gestern noch war alles in Ordnung gewesen. Sie hatte Freundinnen besucht, war durch die Läden geschlendert, die Pergamente und Schriftrollen feilboten, hatte eine Zeitlang an ihrem Webstuhl verbracht – das typische Tagesprogramm eines jungen Mädchens ihrer Gesellschaftsschicht und Abstammung. Aber dann hatte sie dieser seltsame Traum heimgesucht …
    Kurz nach Mitternacht, so Ulrikas Traum, war sie aus dem Bett aufgestanden und ans Fenster getreten. Dann kletterte sie hinaus und landete barfuß im Schnee. Statt Obstbäumen, wie sie hinter der Villa wuchsen, umgaben sie in ihrem Traum hohe Föhren, ein richtiger Wald, und Wolkenfetzen trieben über einen winterlichen Mond. Sie entdeckte Spuren im Schnee – Abdrücke von mächtigen Tatzen, die in den Wald hinein führten. Ulrika folgte ihnen, spürte das Mondlicht auf ihren nackten Schultern, und dann stand sie auf einmal vor einem ausgewachsenen zottelhaarigen Wolf mit goldgelben Augen. Ruhig setzte sie sich in den Schnee, worauf das Tier sich neben ihr niederließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Die Nacht war klar, so klar wie die Augen des Wolfs, der zu ihr aufblickte. Unter dem Fell konnte sie seinen gleichmäßigen Herzschlag spüren. Die goldgelben Augen blinzelten und ihr war, als läge darin ein Ausdruck von Vertrauen, von Liebe, ja, von Zuhause.
    Verwirrt war Ulrika aufgewacht. Warum habe ich von einem Wolf geträumt?, hatte sie überlegt. Was für einen Grund mag es dafür geben? Hängt das womöglich mit meinem Vater zusammen, der vor langer Zeit im fernen Persien gestorben ist und dessen Name Wulf war?
    Hatte der Traum etwas zu bedeuten? Wenn ja, was?
    Ihre Sklaven setzten die Sänfte ab, und Ulrika stieg aus. Sie war ein hochgewachsenes junges Mädchen. Über ihrer langen Tunika aus blassrosa Seide lag die farblich darauf abgestimmte Palla über Kopf und Schultern, das hellbraune Haar und den schlanken Hals verbarg sie in jungfräulicher Zurückhaltung. Ihre selbstbewusste Haltung und ihr sicheres Auftreten ließen nichts von der inneren Unruhe erkennen, die sie belastete.
    Die Straße der Wahrsager war eine schmale Gasse im Schatten dicht besiedelter Wohnhäuser. Die Zelte und Buden der Spiritisten, Schlangenbeschwörer, Seher und Zukunftsdeuter, eins bunter bemalt als das nächste und mit glitzernden Objekten verziert, sahen vielversprechend aus. Das Geschäft der Lieferanten von Glücksanhängern, magischen Reliquien und Amuletten blühte.
    Als Ulrika die Gasse betrat, um jemanden zu finden, der ihren Traum von dem Wolf deuten konnte, machten fahrende Händler aus Zelten und Buden lauthals auf sich aufmerksam, gaben sich als »echte Chaldäer« aus, mit direkter Verbindung zur Zukunft und im Besitz des Dritten Auges. Als Erstes begab sie sich zu einem Vogeldeuter, der für ein paar Münzen aus den Innereien seiner in Verschläge gepferchten Tauben weissagte. Seine Hände waren blutverkrustet. Er versicherte Ulrika, dass sie noch vor Ende des Jahres einen Ehemann finden würde. Der Rauchdeuter, den Ulrika als Nächsten an seinem Stand aufsuchte, verkündete, dass der Weihrauch ihr fünf gesunde Kinder verhieß.
    Ungeduldig ging sie weiter, bis sie ganz hinten in der Gasse auf eine armselig wirkende Gestalt traf, die weder einen Stand noch ein Zelt ihr eigen nannte, sich nicht einmal eines schattigen Plätzchens erfreuen konnte. Mit überkreuzten Beinen hockte sie auf einer zerfransten Matte am Straßenrand. Ihr langes weißes Gewand hatte seine besten Tage hinter sich, ihre knöchernen langgliedrigen Hände ruhten auf mageren Knien. Da die Frau den Kopf gesenkt hielt, sah man nur ihr Haar, das
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