Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
war.
    »… hat die Näherin Volland in gemeiner und böser Absicht danach getrachtet, ihr eigen Kind elend zu machen, indem sie ihm einen verderblichen Trank beibrachte …«
    Was hatte das zu bedeuten? In Sophies Kopf überschlugen sich die Gedanken. In ihrer Verwirrung verstand sie nur Fetzen von der Rede, aus der einzelne Worte hervorstachen wie struppige, dornige Zweige aus einem finsteren, undurchdringlichen Dickicht:
Buhlschaft, schwarze Magie, Giftmischerei …
    »… weshalb das Gericht zu dem Urteil gelangte, dass die Übeltäterin zur Strafe für ihre schwere Schuld und Gottlosigkeit den Tod erleiden soll …«
    Wovon sprach dieser Mann? Unfähig, den Sinn der Rede zu begreifen, sah Sophie, wie der Richter die Pergamentrolle in den Tiefen seiner Robe verschwinden ließ und gleichzeitig einem riesengroßen Mann zunickte, der mit nacktem Oberkörper und verschränkten Armen etwas abseits auf dem Gerüst stand. Erst jetzt erkannte sie den Galgen, der über ihrer Mutter emporragte.
    »Sie wird sterben, bevor die Flammen sie erreichen«, sagte Abbé Morel. »Sie muss nicht mehr leiden als nötig.«
    Sophie wollte die Augen abwenden, doch sie konnte es nicht. Als stünde sie unter einem Bann, sah sie ohnmächtig mit an, wie der halb nackte Riese zu ihrer Mutter trat und ihr die Schlinge um den Hals legte. Als er die Schlinge festzog, traf sie noch einmal ihr Blick, Madeleines Lippen bewegten sich, und noch einmal rief sie ihrer Tochter etwas zu. Sophie verstand nur ein einziges Wort:
    »… Glück …«
    Im selben Augenblick verlor Madeleine den Boden unter den Füßen, ein Aufschrei ging über den Platz, und gleich darauf wurde sie von dem Seil in die Höhe gerissen. Für eine Sekunde baumelte sie in der Luft, dann plötzlich ein Ruck, und der Balken, von dem ihr Körper herabhing, schwenkte über das Feuer.
    »Aaaaahhhhhh …«
    Wie eine Erlösung erscholl der Ruf aus unzähligen Kehlen, als die Flammen die Kleider der Gehängten erfassten. Sophie schrie auf wie ein Tier, schrie und schrie und schrie, als würde sie nie wieder aufhören können zu schreien, schrie ihre Liebe hinaus, ihre Liebe und ihren Schmerz und ihre Verzweiflung. Doch gierig fraß das Feuer sich weiter, stetig und unbeirrbar, von den Gliedmaßen her auf die Mitte des Körpers zu, mit züngelnden, tänzelnden Flammen, überzog bald den ganzen Leib ihrer Mutter, aus dem schon alles Leben gewichen war. Mit verdrehtem Kopf, Arme und Beine in der Luft baumelnd, hatte Madeleine Volland ihren Widerstand für immer aufgegeben. Auf einmal fühlte Sophie sich wie gelähmt. Sie roch nicht den Geruch des Feuers, spürte nicht die Nässe in ihrem Gesicht, sah nur vor sich Dinge, die ihr Begreifen überstiegen. Passierte wirklich, was hier vor ihren Augen geschah? Eine graue Katze floh in weiten Sätzen von dem Gerüst, als würde sie von unsichtbaren Teufeln gehetzt. Und während die Katze zwischen den Menschen verschwand, regte sich in Sophie ein schwarzer, böser Gedanke: Es war ihre Schuld, was hier geschah.
    »Komm«, sagte Abbé Morel, »gehen wir nach Hause.«
    Doch Sophie rührte sich nicht von der Stelle. Sie wollte, musste bleiben, bis zum bitteren Ende, mit eigenen Augensehen, wie die Überreste ihrer Mutter in den Flammen verbrannten, damit sie für immer das Unbegreifliche begriff, das sich hier ereignete. Tränen rannen aus ihren Augen, bildeten einen heißen, salzigen Strom auf ihren Wangen, um sich dort mit den Regentropfen zu vermischen, während sie nach der großen schweren Hand des Pfarrers griff, gegen die sie sich eben noch mit all ihren Kräften gewehrt hatte. Sie nahm diese Hand und klammerte sich an sie, als wäre dies ihre letzte Zuflucht auf Erden.
    »Gott sei ihrer armen Seele gnädig!«, flüsterte Abbé Morel. Während der Pfarrer dies sagte, riss irgendwo der Himmel auf, und durch eine Öffnung im Wolkendach, die man noch gar nicht sehen konnte, flutete ein langer schräger Sonnenstrahl auf den Richtplatz herab. Wenig später leuchtete das ewige Blau des Himmels zwischen zwei Wolkengebirgen hervor, rasch vergrößerte sich der Riss, als teile sich dort oben ein gewaltiger Vorhang, und während die Menschenmenge auf dem Platz sich allmählich zerstreute, spannte sich ein herrlicher Regenbogen über das Land. Wie ein Seufzer der Erde zog ein frischer Hauch durch das Tal. Das Schauspiel war vorbei, der Frevel der Näherin Volland gesühnt, und ihre Tochter Sophie durfte endlich die Stätte verlassen, mit gebrochenem Herzen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher