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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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Tages hatten sie gemeinsam eingenommen. Als die Büttel aus Roanne Madeleine verhaftet hatten, war es gewesen, als gehe sie auf einer schwindelnd hohen Brücke über einen Abgrund, und plötzlich lasse die Hand sie los, die sie bislang gehalten hatte.
    Was hatte ihre Mutter Schlimmes getan? Sollte sie dafür büßen, dass sie zur Kommunion gegangen war, obwohl Abbé Morel sie von den Sakramenten ausgeschlossen hatte?
    Die Unwissenheit lastete auf Sophies Seele wie das Gefühl einer übergroßen und zugleich unfassbaren Schuld. Anfangs war sie wütend gewesen, hatte laut protestiert, jeden im Schloss gefragt, wohin man ihre Mutter verschleppt habe. Doch genauso wie der Baron und Louise verschwiegen ihr auch die Diener und Lakaien, was mit Madeleine geschah, und wollte ihr doch jemand etwas verraten, kam eilig Louise herbei und verbot ihm den Mund.
    Je länger das Schweigen anhielt, mit dem man Sophie vor der Wahrheit abschirmte wie vor einem bösen Feind, desto mehr wich ihre Wut einer unbestimmten, unwirklichen Angst. Sie spürte, irgendetwas Fürchterliches bahnte sich an, sie witterte eine fremde, lauernde Gefahr, ahnte sie in den verlegenen Blicken, die sie erhaschte, in den getuschelten Worten hinter ihrem Rücken. Sie begann, für ihre Mutter zu beten, zündetein der Kapelle Kerzen an, und fast jede Nacht träumte sie, sie würde zusammen mit Madeleine und ihrem Vater auf dem Schloss leben, als eine glückliche Familie. Wenn sie dann am Morgen aufwachte, war die Wirklichkeit kaum noch zu ertragen.
    Sophie seufzte. Vor ihr, auf der anderen Seite der Scheibe, ließ sich ein Spatz auf dem Fensterbrett nieder und versuchte, mit lautem Schimpfen sein nasses Gefieder zu trocknen. Der Regen hatte nachgelassen, und der Himmel hatte sich inzwischen so weit aufgehellt, dass die dunklen Pfade des Buchsbaumlabyrinths im Park einzeln und deutlich hervortraten. Wie leicht war der Weg ins Freie von hier oben aus zu erkennen, und wie schwierig war es, wenn man in dem Labyrinth gefangen war.
    »Komm, zieh deine Pantinen an!«
    Sophie hatte nicht gehört, dass jemand den Raum betreten hatte. Louise stand in der Tür und nickte ihr zu.
    »Abbé Morel kommt gleich, um dich abzuholen. Er geht mit dir ins Dorf.«
    Bei den Worten der Zofe keimte Hoffnung in Sophie auf.
    »Gehen wir zu meiner Mutter?«
    Louise nickte. Zugleich aber schlug sie die Augen nieder.

5
     
    Grauer, feuchter Qualm stieg über dem Dorfplatz von Beaulieu auf, wo unter der Leitung des Küsters Père Jaubert ein halbes Dutzend Arbeiter fluchend damit beschäftigt war, einFeuer zu entfachen. Die ganze Nacht über hatte es in Strömen geregnet, ein nasser, für die Jahreszeit viel zu kalter Wind hatte schwere dunkle Wolken durch das Tal getrieben, und nun wollte das Holz nicht brennen: fünf Klafter Buche, das Klafter zu vierzig Livres, dazu einhundert Reisigbündel und drei Säcke Kohle.
    »Was für eine Verschwendung!«, klagte Jacqueline Poignard, die Mutter der kleinen Marie. »Das Holz wird uns nächsten Winter im Backhaus fehlen.«
    »Strafe muss sein«, erwiderte der Tagelöhner Mercier. »Das Weibsstück hat es gar zu toll getrieben.«
    Obwohl die Arbeit an diesem Tag ruhte, war schon jedermann im Dorf auf den Beinen. Alle strömten zur Kirche, um ihre Seelen zu stärken, bevor das große Schauspiel begann. Der Brauch, Gotteslästerer auf diese Weise zu strafen, war zwar so alt wie die Menschheit selbst, doch war er in der gesamten Provinz seit Jahrzehnten nicht mehr zur Anwendung gelangt. Nur die Ältesten erinnerten sich noch daran wie an die Feiern zur Geburt oder Hochzeit einer hohen Standesperson. Seit drei Tagen strömten aus dem ganzen Tal Schaulustige herbei, begierig, ein Spektakel zu erleben, das man ihnen allzu lange vorenthalten hatte.
    Ein neuer böiger Regenschauer ging auf die Weinberge und Wiesen nieder, als Abbé Morel sich nach der Frühmesse auf den Weg machte. Seine Galoschen quietschten im Morast, der Regen rann ihm vom Hut in den Nacken, und dennoch setzte er seine Schritte so langsam voreinander, als habe er gar nicht die Absicht, an sein Ziel zu gelangen.
    Hatte Madeleine Volland solche Strafe verdient? Der alte Pfarrer wusste es nicht. Wie oft hatte er diese Frau ermahnt, nicht länger in der Sünde zu verharren. Dabei hätte sie denHausierer Dorval nur zu heiraten brauchen oder auf den fleischlichen Umgang mit ihm zu verzichten, um Vergebung zu erlangen, doch sie hatte sich immer geweigert. Nicht mal nach dem Tod des Mannes, der
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