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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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sie außerhalb der Ehe geschwängert hatte, war sie zur Reue bereit gewesen, als wäre es ihr in der Seele zuwider, das Schandlinnen abzulegen und sich mit der Kirche zu versöhnen.
    Um seine Ankunft auf dem Schloss hinauszuzögern, machte Abbé Morel einen Umweg am Gemeindeanger vorbei. Kein anderer Gang hatte ihn in seinem langen Leben so sehr bedrückt, und er hätte seinen rechten Daumen hergegeben, um ihn sich und dem Kind zu ersparen. Aber das war nicht in sein Ermessen gestellt. Das Gericht hatte angeordnet, dass Sophie der Vollstreckung des Urteils beiwohnen musste als nützliches Exemplum für ihre gefährdete Seele. Morels Auftrag war es, sie zu begleiten.
    Wann sollte er dem Kind sagen, wohin ihr Weg sie führte? Oder war es besser, es bis zum letzten Augenblick in der Gnade der Unwissenheit zu belassen?
    Mit durchnässter Soutane klopfte Abbé Morel an die Pforte des Schlosses. Baron de Laterre war noch am selben Tag, da sein Gast, der junge
Gentilhomme
, nach Roanne geeilt war, um Anzeige zu erheben, nach Paris aufgebrochen. Er wollte sich beim dortigen Parlament, in dessen Zuständigkeit der Prozess gegen Madeleine Volland fiel, zugunsten der Angeklagten verwenden.
    Ein Funke Hoffnung glomm also noch im Herzen des alten Abbé, und solange es Gottes Wille war, würde er ihn am Leben erhalten.

6
     
    Eine Menschenmenge, wie Sophie noch keine je gesehen hatte, drängte sich auf dem Dorfplatz, als sie mit Abbé Morel in Beaulieu eintraf. Inzwischen hatte es fast aufgehört zu regnen, nur noch ein paar einzelne Tropfen fielen vom Himmel, doch noch immer strich ein feuchter Wind über das Tal. In der Luft hing ein brandiger Geruch.
    Unwillkürlich griff Sophie nach der Hand des Pfarrers.
    »Was wollen die vielen Leute hier? Warum arbeiteten sie nicht?«
    Abbé Morel räusperte sich. War jetzt der Zeitpunkt gekommen, dem Kind die Wahrheit zu sagen? Er räusperte sich erneut, doch als er Sophies fragenden Blick sah, erstarb die Wahrheit auf seiner Zunge.
    »Wer weiß, vielleicht geschieht noch ein Wunder, und der Baron kehrt rechtzeitig aus Paris zurück, bevor es zu spät ist.« Sophie wusste nicht, wovon der Pfarrer sprach. Doch die leise Zuversicht, die sie auf dem Weg hierher verspürt hatte, schwand bei seinen Worten dahin, und wieder stieg in ihr jene Ahnung unheimlicher Gefahr auf, die sie verfolgte, seit sie von ihrer Mutter getrennt war. Unsicher, als lauere irgendwo versteckt ein böses Tier, schaute sie sich um. Bei ihrem Anblick verstummten die Leute und traten beiseite, um ihr Platz zu machen.
    Plötzlich sah Sophie ihre Mutter, am Ende der Menschengasse, nur einen Steinwurf entfernt.
    »Mama …«
    Der Ruf blieb ihr in der Kehle stecken. Was hatte man mit ihrer Mutter gemacht? In der Mitte des Platzes, umringtvon Hunderten Menschen, die johlten und feixten wie beim Karneval, war ein Gerüst errichtet. Darauf stand Madeleine, an Händen und Beinen gefesselt wie eine Verbrecherin, angetan mit ihrem Schandlinnen. Sie hielt den kahl geschorenen Kopf gesenkt und wirkte so einsam und verloren inmitten der vielen Menschen, dass es Sophie das Herz zuschnürte. Hinter dem Gerüst loderte ein riesiges Feuer in den grauen Regenhimmel auf, als würden die Flammen der Hölle am Firmament lecken.
    »Mama!«
    Der Schrei, der sich endlich Sophies Kehle entwand, übertönte allen Lärm auf dem Platz. Madeleine hob den Kopf, ein schwaches Leuchten ging über ihr Gesicht.
    »Sophie!«
    Sie ahnte den Ruf Madeleines mehr, als dass sie ihn hörte. Sie wollte zu ihrer Mutter, doch die Hand des Pfarrers hielt sie zurück. Das bunte Tuch an Madeleines Hals, Dorvals Geschenk, flatterte im Wind, als wolle es sie verspotten. Auf einmal verspürte Sophie nur noch Angst, blanke, entsetzliche Angst.
    »Lassen Sie mich los!«, schrie sie. »Ich will zu meiner Mutter!«
    Sie zerrte und zog mit all ihren Kräften, um sich von Abbé Morel frei zu machen, trat gegen sein Bein, wieder und wieder, riss an seiner Soutane, spuckte ihn an und biss in seine Hand. Doch der alte Pfarrer hielt ihren Arm so fest umschlossen wie ein Schraubstock, während der Landrichter in schwarzer Robe und grauer Perücke das nasse Holzgerüst bestieg. Bei seinem Erscheinen verstummte die Menge. Plötzlich war es so still, dass man die wenigen Regentropfen auf die Bohlen fallen hörte. Auch Sophie hielt unwillkürlich inne, währendder Richter ein Pergament entrollte und seine Stimme erhob, um das Urteil zu verlesen, das über ihre Mutter gefällt worden
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