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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim
Autoren: Kathrin Lange
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1. Kapitel
    Nürnberg, 1491 n. Chr.
    Gespenstische Ruhe lag über dem Predigerkloster an der Burgstraße, und die Hitze des vergangenen Augusttages hockte noch immer auf den Dächern und zwischen den dicken Mauern. Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht, und sogar im Inneren der Klosterkirche, zwischen den schlanken Säulen der dreischiffigen Basilika, konnte man die drückende Schwüle der letzten Tage noch spüren.
    Das erst vor wenigen Jahren neu erbaute Dormitorium, das sich zwischen dem östlichen Kreuzgang und dem Nordhof erstreckte, hallte nicht wie sonst vom Schnarchen der Mönche wider. In dieser Nacht war es erfüllt von der großen Unruhe, die die Klosterinsassen erfasst hatte. Ab und zu seufzte einer der Männer, während sich ein anderer auf der mit Schafswolle gefüllten Matratze hin und her warf. Es war keiner unter ihnen, dem die Ankunft von vier Inquisitoren an diesem Nachmittag entgangen war.
    Gegen Mitternacht öffnete sich eine der Zellentüren. Für einen kurzen Moment rührte sich nichts, nur der Schein einer flackernden Kerze fiel auf den Gang. Dann erschien einer der Mönche. Mit aufgerissenen Augen warf er hastige Blicke den Korridor entlang, und als er sich allein wähnte, eilte er auf nackten Füßen davon. Das Licht seiner Kerze zuckte über die Bemalungen der hölzernen Zwischenwände, die das Dormitorium in Zellen unterteilten. Es riss Einzelheiten der Verzierungen aus der Finsternis. Der Sündenfall und die Schlange, auf deren Leib sonderbare, fast magisch anmutende Zeichen abgebildet waren. Moses, der mit hoch erhobenem Arm und herrischer Miene das Meer teilte. Daniel in einer Grube voller Löwen, deren Zähne in dunklem Rot glänzten.
    Der Mönch verließ das Dormitorium durch eine niedrige Tür, durchquerte den Kreuzgang und öffnete dann eine versteckt liegende Pforte, die ihn auf den Nordhof und schließlich zu den imhinteren Teil der Klosteranlage befindlichen Latrinen führte. Der Kerzenschein störte eine Ratte bei ihrem Beutezug. Sie erhob sich auf die Hinterbeine, stieß ein wütendes Quieken aus und huschte dann am aus groben Steinen gemauerten Fundament des Abtritts entlang in die Finsternis.
    Der Mönch schickte ihr einen leisen Fluch hinterher, schlug rasch ein Kreuz und verschwand in der Latrina. Nachdem er seiner Notdurft Abhilfe geschaffen hatte, machte er sich – langsamer nun – auf den Weg zurück in das Dormitorium. Auf dem Hof kam ihm eine Gestalt entgegen, und er blieb wie angewurzelt stehen.
    »Wer ist da?«, fragte er mit zittriger Stimme.
    »Ich bin es.« Ein Mann trat aus den Schatten in den helleren Lichtschein des Mondes. Er trug ein Gefäß, das er mit beiden Händen vor die Brust gepresst hatte. »Ich wurde geschickt, um für meinen Herrn Wasser zu holen.« Zu seiner Legitimation hob er den Krug ein Stück an.
    »Ihr seid einer der Inquisitoren, nicht wahr?«, fragte der Mönch atemlos.
    »Ja. Geh zurück in deine Zelle, Bruder! Ich werde es auch gleich tun. Gott behüte deinen Schlaf!« Der Inquisitor ließ den Mönch stehen und trat an den Brunnen.
    Der Mönch zögerte kurz, dann setzte er seinen Weg fort. Diesmal warf er kurze Seitenblicke um sich, wenn seine Kerze die Bemalungen im Schlafhaus aufleuchten ließ, und einmal, als aus dem Dunkel unvermittelt die Hand auftauchte, die Belsazar mit flammender Schrift den Untergang prophezeite, fuhr er mit einem leisen Aufschrei zurück.
    Es war dieser unterdrückte Schrei, der Johannes Schedel, den Bruder Infirmarius des Klosters, aus seinem von schweren Träumen geplagten Schlaf riss.
    Mit klopfendem Herzen und geschlossenen Augen lauschte er, wie der Mönch auf dem Gang ein leises Gebet murmelte und dann auf nackten Sohlen an Johannes’ Zelle vorbeiging. Als eine Tür ins Schloss gedrückt wurde, seufzte Johannes erleichtert. Bruder Ezechiel musste in jeder Nacht einmal seine Zelle verlassen, um den Abtritt aufzusuchen. Kein Grund zur Beunruhigung.
    Johannes öffnete die Augen. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, aber sein Herz beruhigte sich jetzt langsam. Er versuchte, sich den Traum ins Gedächtnis zurückzurufen, aus dem er soeben gerissen worden war, aber es gelang ihm nicht. Alles, an was er sich noch erinnerte, war ein vages Gefühl von Bedrohung, ein namenloser Schrecken, der in der Finsternis hinter ihm gelauert hatte.
    Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte gegen die Balken der Decke, an denen das Licht einer einzelnen Kerze, die er beim Zubettgehen hatte brennen lassen,
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