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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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nicht sprechen! Oder glaubst du, Gott habe sich geirrt?«
    »Nein, Abbé Morel«, sagte sie leise. »Aber was hat meine Mutter denn Schlimmes getan?«
    »Deine Mutter hat in Sünde gelebt, Jahr um Jahr. Weil sie die Fleischesliebe der Gottesliebe vorzog und sich in Künsten versuchte, die einem Weib nach dem Willen des Himmels verwehrt sind. Nur darum ist alles so gekommen, und keine Macht auf Erden konnte etwas daran ändern.«
    Sophie verstummte. Obwohl sich alles in ihr gegen die Worte des Pfarrers sträubte, wusste sie nicht, was sie erwidern sollte. Sie versuchte, an ihre Mutter zu denken, an das bunte Tuch, das sie nur zu besonderen Festtagen um ihren Hals trug und das immer so fröhlich im Wind wehte. Doch wieder sah sienur die Katze vor sich. Die Leute auf dem Schloss hatten gesagt, die Katze sei ein Zeichen gewesen, ein Zeichen, dass ihre Mutter mit dem Bösen im Bund stand. Sollten sie wirklich Recht haben?
    »Der Baron«, sagte sie schließlich, »hätte nur ein paar Stunden früher zurück sein müssen, und meine Mutter würde noch leben.«
    »Eben das ist der Beweis, Sophie. Hätte die Vorsehung ein anderes Urteil gewollt als das Gericht, wäre der Baron früher zurückgekehrt. Nein, Gottes Wille ist stärker als jede irdische Macht.« Abbé Morel ließ ihre Hand los und sah sie an. »Darum hüte dich, in die Fußstapfen deiner Mutter zu treten! Halte dich von allem fern, was sie dich lehrte! – Aber schau nur, gleich sind wir da!«
    Sie hatten die Anhöhe erreicht, und in der Ferne waren die dicken Mauern des Klosters zu sehen.
    »Bitte, lassen Sie mich nicht allein!«, sagte Sophie und griff nach der Hand des Pfarrers.
    »Hab keine Angst, im Kloster wirst du es gut haben. Die Nonnen werden alles tun, damit ein gottgefälliges Weib aus dir wird.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich schließe dich in meine Gebete ein. Dann bin ich bei dir, auch wenn du mich nicht siehst.«
    Sophie schluckte. »Versprechen Sie mir das?«
    »Natürlich.« Der Pfarrer tätschelte mit seiner schweren Hand ihre Wange. »Aber nur, wenn du mir auch etwas versprichst.«
    »Was, Monsieur l’Abbé?«
    »Dass du nicht so wirst wie deine Mutter, weder in deinen Worten noch in deinen Werken. Bist du dazu bereit?«
    Abbé Morel hob ihr Kinn und schaute sie so ernst und streng an, als würde der liebe Gott selbst sie durch die grauen Augendes Pfarrers anschauen. In diesem Augenblick begriff sie, dass die Liebe Gottes ein Geschenk war, das man sich stets aufs Neue verdienen musste. Und plötzlich war ihr so kalt, dass sie im hellen Sonnenschein fror, als wäre tiefer Winter.
    »Ja«, flüsterte sie, und während sie dieses eine Wort sagte, mit dem sie ihr Versprechen besiegelte, wusste sie, dass es ihr Leben für immer verändern würde.

 
ERSTES BUCH
Der Stachel im Fleische
1747

1
     
    Wer Paris vom Glockenturm der Hauptkirche Notre-Dame aus erblickte, dem mochte die Stadt wie eine wohlgeformte Gipslandschaft erscheinen, ein ruhiges, graues Häusermeer, aus dem sich die Kirchen und Staatsgebäude wie majestätische Mahnmale erhoben, unverrückbare Felsen in der Brandung der Zeit.
    Doch dieser Schein trog. Denn in Wahrheit war Paris ein riesiger Krake, der sich mit seinen Armen über das ganze französische Königreich ausbreitete. Tag für Tag wuchs dieser Krake an, wuchernd und wabernd, als gebe es keine Grenzen. Gierig verschlang er, was im Umkreis Hunderter Meilen geerntet und gekeltert wurde, zehrte Dörfer und Städte aus, verleibte seinem unersättlichen Organismus alle Gaben und Güter, allen Reichtum und Überfluss des Landes ein, um die unermessliche Anzahl von Menschen zu ernähren, die im Gedärm der Pariser Straßen und Gassen geboren wurden, sich vermehrten und starben im ewigen Kreislauf des Lebens: ein Schlund, in dem ganz Frankreich verschmolz, ein ruhelos zuckendes Labyrinth der Leidenschaften und Begierden.
    Schon um ein Uhr in der Frühe erwachte die Stadt. Übernächtigten Heerscharen gleich kamen die Bauern auf ihren Karren aus den Vororten gezogen, um mit Unmengen von Fleisch, Gemüse und Obst, Eiern, Butter und Käse den Bauch des gefräßigen Kraken zu stopfen. Doch erst wenn im Morgengrauen die Bäcker ihre Geschäfte öffneten, füllten sich allmählich die Straßen. Handwerker und Arbeiter, Hausfrauen und Dienstmädchen, Büroschreiber und Handelsgehilfen bahnten sich, einer eiliger als der andere, ihren Weg durchden immer dichteren Verkehr der in alle Himmelsrichtungen rollenden Fuhrwerke und
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